25 Jahre nach dem Sturz: Welche Lehren die Politik aus der Glogowski-Affäre ziehen kann
Er war der niedersächsische Regierungschef mit der kürzesten Amtszeit – aber gleichwohl gehörte er zu den Politikern mit dem längsten und nachhaltigsten Einfluss. Der Braunschweiger Sozialdemokrat Gerhard Glogowski, heute 81 Jahre alt, übernahm nach dem Aufstieg von Gerhard Schröder zum Bundeskanzler die Führung der Landesregierung. Ende Oktober 1998 wurde er vom Landtag zum neuen Ministerpräsidenten gewählt, getragen von einer absoluten Mehrheit der SPD. Knapp 13 Monate später, am 26. November 1999, trat er von seinem Amt zurück. Vorausgegangen war nur eine einzige Woche mit intensiver Berichterstattung über Verfehlungen im Amt. Dem damals 56 Jahre alten Politiker wurde vorgeworfen, er habe sich zu Luxusreisen einladen lassen, im unzulässigen Umfang Sponsoring für Feiern angenommen und er sei bei der Abführung von Aufsichtsratsbezügen zu nachlässig gewesen. Die Nachfolge trat der damalige SPD-Landtagsfraktionschef Sigmar Gabriel an, der als ein politischer Ziehsohn von Glogowski galt. Doch der blieb nur gut drei Jahre im Amt, bei der Landtagswahl 2003 verlor die SPD ihre Machtstellung, CDU und FDP übernahmen die Regierungsgeschäfte.
Was kennzeichnet diese „Glogowski-Affäre“ vor genau 25 Jahren? Zum Verständnis ist es wichtig, die Umstände zu kennen. Glogowski galt als „konservativer“ Sozialdemokrat, der nach dem rot-grünen Wahlsieg 1990 das Innenministerium übernahm – und stets kritisch beäugt wurde nicht nur vom grünen Koalitionspartner, sondern auch von den engsten Weggefährten des Ministerpräsidenten Gerhard Schröder, der als „Linker“ in der SPD gestartet und ins Amt des Regierungschefs gekommen war. Das Umfeld von Schröder misstraute Glogowski, der als Innenminister die Rolle des „harten Hundes“ übernommen und damit das konservative Profil der SPD geprägt hatte. Viele vom linken SPD-Flügel trauten ihm die Schröder-Nachfolge nicht zu. Ein bisschen erinnert das an aktuelle Umstände, an die Vorbehalte der linken Sozialdemokraten gegenüber Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius. Pistorius war einst gestartet als Büroleiter von Glogowski. Zurück in die Zeit von vor einem Vierteljahrhundert: Für einen SPD-Landesparteitag, der im Juni 1998 stattfinden sollte, lag ein Antrag vor, der sich gegen Glogowski als Schröder-Nachfolger aussprach. Die offene Diskussion darüber hätte die Zerrissenheit der SPD in dieser Personalfrage offenbart und womöglich die Chancen bei der Bundestagswahl im September 1998 geschmälert. Kurz vor Beginn wurde der Parteitag abgesagt – offiziell deshalb, weil es wenige Tage zuvor das schwere Zugunglück in Eschede gegeben hatte und daher aus Respekt vor den Toten keine Parteiveranstaltung stattfinden sollte. Aber war das wirklich der Grund – oder wollte die SPD nur um jeden Preis Geschlossenheit unterstreichen?
Tatsächlich blieb damals auch weiterhin jede Debatte aus – auch, nachdem Schröder zum neuen Kanzler gewählt worden war. Eine Gruppe von Politikern folgte dem neuen Kanzler nach Bonn – darunter sein Staatskanzleichef Frank Steinmeier, heute Bundespräsident, ebenso weitere Vertraute. In Hannover übernahm der bisherige Innenminister geräuschlos die Staatskanzlei. Er hatte nun die wichtige Aufgabe, für freigewordene Führungspositionen neue Leute zu finden. Ein wesentlicher Fehler von Glogowski war es damals wohl, in der Staatskanzlei keine straffe Führung zu etablieren. Der engste Vertraute des Ministerpräsidenten, ein Abteilungsleiter und langjähriger Freund aus der Partei, galt in bürokratischen Fragen als chaotisch und sprunghaft. Die Glogowski später vorgehaltenen Fehler, Bezüge nicht abgeführt und Abrechnungen für Vergünstigungen nicht streng genug genommen zu haben, werden auch dem Einfluss dieses Vertrauten zugeschrieben. Zur Wahrheit gehört wahrscheinlich auch, dass der Ministerpräsident von anderen nicht gewarnt oder auf die Versäumnisse hingewiesen wurde. Einerseits hat Glogowski im Amt das Gefahrenpotenzial der Kritik wohl unterschätzt, andererseits hatte er genügend Skeptiker in der SPD, die ihn offenbar auch ins offene Messer haben laufen lassen. Im politischen Tagesgeschäft wirkte der früher so gradlinige und profilstarke Innenminister nun als Ministerpräsident zuweilen auch zögerlich und vorsichtig. Eine groß angekündigte Initiative zur Entlastung der Kommunen, die den Standardabbau in Kindergärten zur Folge hätte, löste plötzlich einen Proteststurm von Sozialverbänden aus – und Glogowski, davon offensichtlich überrascht, nahm seinen Vorstoß zurück. Das stärkte den Eindruck in den ersten Monaten seiner Amtszeit, bei ihm handele es sich eher um einen „schwachen Ministerpräsidenten“, der Widerstand nicht aushalten kann.
Wäre der Rückhalt in den eigenen Reihen größer gewesen, wäre der Stab in der Staatskanzlei professioneller und weniger angreifbar gewesen, wären keine Politiker mit eigenen Karriereambitionen im Hintergrund aktiv geworden – vermutlich hätte Glogowski die Krise überstehen können. Wenn er selbst „ein dickeres Fell“ gehabt hätte, wäre wohl auch ein öffentliches Schuldeingeständnis mit gelobter Besserung eine Lösung gewesen. Doch die Abläufe waren anders, und sie überschlugen sich: Es begann Mitte November 1999 eine intensive öffentliche Debatte, täglich kamen mehr Vorwürfe über angebliche oder tatsächliche Ungereimtheiten ans Tageslicht. Es wirkte ganz so, als würden jetzt Schubladen mit Material geöffnet, die vorher schon planmäßig für einen möglichen Tag X gefüllt worden waren. Glogowski fühlte sich überrollt von den Vorwürfen, war sichtlich betroffen und erklärte seinen Rücktritt – nach rund einer Woche intensiver Diskussion. Zeitweise schien er nicht zu verstehen, was nun plötzlich alles gegen ihn ins Feld geführt wurde. Dabei hatte er doch acht Jahre lang vorher tadellos das Innenministerium geführt, zuvor galt er in Spitzenpositionen in der SPD und in der Stadt Braunschweig als führungsstarker, beliebter und über die Parteigrenzen hinaus sehr geschätzter Politiker. Und nun kam der Absturz.
Vermutlich hat Glogowski die gegnerischen Kräfte in der eigenen Partei, die sich ihm nicht offen in den Weg stellten, sondern verdeckt agierten, unterschätzt. Vermutlich ist er auch zu unvorsichtig gewesen, wenn es um Vorteilsannahmen und Vergünstigungen geht. Die strikte Zurückhaltung und Einhaltung von Vorgaben, die Schröder immer beachtet hatte, war vom engen Umfeld des Ministerpräsidenten nicht ernst genug genommen worden – er war angreifbar geworden. Dabei hätte Glogowski gewarnt sein können, schon acht Jahre vorher war der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth (CDU) über derlei Nachlässigkeiten gestürzt. Vielleicht hat auch die Ungeduld der nächsten Generation in der SPD den raschen Abgang von Glogowski (Jahrgang 1943) befördert. Am Tag nach dem Rücktritt hatten sich drei Bewerber für die Nachfolge gemeldet – der SPD-Fraktionsvorsitzende Sigmar Gabriel (Jahrgang 1959), der Umweltminister und hannoversche SPD-Bezirkschef Wolfgang Jüttner (Jahrgang 1948) und der Wissenschaftsminister Thomas Oppermann (Jahrgang 1954). Oppermann schied rasch aus, Gabriel drängte nach vorn – aber auch Jüttner zeigte nachdrückliches Interesse. Wenn die Parteigremien oder ein Sonderparteitag der SPD die Nachfolge hätte beschließen müssen, wäre wohl Jüttner der Favorit gewesen. Jüttner hatte in solchen Gremien stets breite Mehrheiten auf seiner Seite. Doch man entschied, die Sache der SPD-Landtagsfraktion zu überlassen – einem sehr viel kleineren Kreis von Akteuren, der wegen seiner Überschaubarkeit auch viel besser für Absprachen und Personalkonstellationen empfänglich gewesen sein musste. In diesem Gremium setzte sich Gabriel durch.
Die Episode des Ministerpräsidenten Glogowski war schnell vorbei, Bleibendes gibt es davon wenig. Der Landespolitiker Glogowski aber gehört zu den prägendsten Figuren der niedersächsischen Geschichte. Er hat schon vor dem Fall der Mauer als Braunschweiger Kommunalpolitiker enge Kontakte zu den Menschen in der DDR geknüpft, nach 1990 zählte er zu den Vorantreibern einer Angliederung des „Amtes Neuhaus“ an Niedersachsen. Glogowski gehört zu den Landespolitikern, denen die deutsche Wiedervereinigung ein echtes Herzensanliegen war – und der das auch in politische Praxis umsetzte. Und es gibt eine ganze Reihe von Politikern, die von seiner Art des politischen Geschäfts viel gelernt haben – weil sie in seinem Umfeld tätig waren und quasi seine Schule besucht haben. Der Prominenteste von ihnen ist der heutige Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius. Von Glogowski bleibt viel mehr, als die kurze Amtszeit in der Staatskanzlei vermuten lässt.
Dieser Artikel erschien am 26.11.2024 in der Ausgabe #209.
Karrieren, Krisen & Kontroversen
Meilensteine der niedersächsischen Landespolitik
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