Als Hilde Obels-Jünemann (SPD) und Ilsa Reinhardt (CDU) 1946 in den ersten niedersächsischen Landtag eingezogen sind, war es noch vollkommen unvorstellbar, dass sie zeitgleich auch Mutter hätten werden können. Vieles hat sich seitdem geändert. Dennoch bleibt es schwierig, ein Landtagsmandat mit kleinen Kindern zu vereinbaren. Es ist nicht vorgesehen: nicht in der Verfassung, nicht in der Logik der Parteien und auch längst nicht in allen Köpfen.

Mit dem Kinderwagen in den Plenarsaal? Es geht, aber nicht immer gut. | Foto: Kleinwächter; GettyImages/baranozdemir

Trotzdem haben Niedersachsens Abgeordnete während der laufenden Legislaturperiode mehr als ein halbes Dutzend Kinder bekommen. Wirklich sichtbar geworden ist das vor allem bei zwei Frauen: Laura Hopmann von der CDU bekam ihren Sohn 2020, Dörte Liebetruth von der SPD wurde im Jahr darauf Mutter einer Tochter. Doch vor dieser Sichtbarkeit stand die Unsichtbarkeit.

Laura Hopmann (CDU) mit ihrem Sohn im Landtag | Foto: privat

Laura Hopmann zog sich zunächst zurück, als ihr Kind zur Welt gekommen war. Im Parlament ließ sie sich entschuldigen, im Ausschuss vertreten. Als sie im November 2020 den ersten Versuch wagte, nach der Geburt wieder an einer Ausschusssitzung teilzunehmen, bekam sie sofort Fieber – eine Folge des nicht gut verheilten Kaiserschnitts. Ohnehin war sie körperlich angeschlagen, denn sie gehörte zu den ersten Personen im hannöverschen Politikbetrieb, die sich im Frühjahr 2020 mit dem Corona-Virus infiziert hatten. In der Zeit danach litt sie unter Kurzatmigkeit. Rückblickend fragt sie sich, wie sie das körperlich überhaupt durchgestanden hat. Die Umstände der Pandemie hatten allerdings auch ihre Vorteile, berichtet Hopmann: Es gab nicht so viele Termine, auf denen sie dann gefehlt hätte. Wenn das öffentliche Leben stillsteht, kann das für eine Politikerin, die Mutter wird, auch gut sein.

Sechs Monate lang hat Laura Hopmann voll gestillt. Vor allem bei den Müttern ist die physische Nähe zum Kind naturgemäß besonders wichtig. Das hat ihren beruflichen Alltag eingeschränkt, denn alle zwei Stunden hatte sie nun einen wichtigen Termin, der sich auch durch eine wichtige Abstimmung nicht aufschieben ließ. Eine große Unterstützung war in dieser Zeit ihr Mann, der Elternzeit genommen hat und als „Stillschatten“ im Landtag mit dabei war. Während sie im Plenarsaal saß, wartete er mit dem Kind darauf, dass sie zwischendurch vorbeischaute. Für Hopmann war das allerdings „mental unfassbar anstrengend“, wie sie erzählt. „Man ist nirgendwo so ganz. Wenn ich im Plenum saß, dachte ich an mein Kind. Wenn ich bei meinem Kind war, dachte ich an die Arbeit.“ Als ihr Kind dann alt genug war für Brei-Nahrung, war Laura Hopmann erleichtert, dass sie auch mal wieder allein von Hildesheim nach Hannover fahren konnte. Für sie sei es manchmal „mehr Qual als Segen“ gewesen, mit dem Kind im Plenum zu sein.

Dörte Liebetruth (SPD) mit ihrer Tochter vorm Plenarsaal | Foto: privat

Auch Dörte Liebetruth nimmt ihr heute 9 Monate altes Kind mit in den Landtag. Die alleinerziehende Mutter (wobei sie angesichts der Unterstützung von Familie und Freunden gerne auf diesen Titel verzichtet) hat seit August 2021 Unterstützung durch ein Au-pair. Diese kümmert sich um das Kind, während die Abgeordnete in Sitzungen ist. Dass der Haushaltsausschuss derzeit Corona-bedingt im Plenarsaal tagt, ist für Liebetruth ein Vorteil, denn das verkürzt den Weg zum Eltern-Kind-Büro des Landtags. Ihre Tätigkeit als Abgeordnete ruhen zu lassen, kommt für Liebetruth allerdings gar nicht in Frage. Als direkt gewählte Abgeordnete will sie ihren Wahlkreis Verden nicht im Stich lassen.

Einhellig versichern beide Politikerinnen, dass eine Person ihnen ganz besonders den Rücken gestärkt hat: die Landtagspräsidentin Gabriele Andretta (SPD). Andretta war selbst eine Vorkämpferin, und es wird zu ihrem politischen Vermächtnis zählen, dass Kind und politische Karriere zumindest im niedersächsischen Landtag nun ein Stück weit besser zusammenpassen. Den Grundstein dafür hat sie mit einem persönlichen Vorbild gelegt, denn sie war Ende der 90er-Jahre die erste Frau, die während ihrer aktiven Zeit im Landtag ein Kind zur Welt gebracht hat. Ihre Tochter besuchte den Plenarsaal bereits im zarten Alter von zwei Wochen – im Tragetuch der Mutter.

„1998 war es ein Wagnis, als Abgeordnete Mutter zu werden. Es wurde geduldet, aber man hat keine Rücksicht genommen auf die Situation.“

Wie sich die Kultur seitdem gewandelt hat, wird deutlich, wenn man auf jene Zeit zurückblickt. „1998 war es ein Wagnis, als Abgeordnete Mutter zu werden“, erzählt Andretta im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick. „Die meisten waren unausgesprochen der Meinung, dass Mütter mit kleinen Kindern nicht ins Parlament gehören. Es wurde geduldet, aber man hat keine Rücksicht genommen auf die Situation.“ Das sieht jetzt anders aus, immerhin gibt es eine Kindertagesstätte, Wickeltische und das Eltern-Kind-Büro. Doch Andretta setzt vor allem darauf, dass sich die politische Kultur noch weiter wandelt. Das Parlament habe eine Vorbildfunktion, sagt sie und stellt zugleich fest: „Wir sind nicht auf der Höhe der Zeit, wenn es um Vereinbarkeit von Elternschaft und Mandat geht.“ In der Corona-Pandemie sei der Wunsch, dass auch junge Eltern ihre Perspektive ins Parlament einbringen, noch einmal sehr deutlich geworden. Deshalb müsse man Rahmenbedingungen schaffen, die das möglich machen. Die Pandemie habe dazu ein „Fenster der Möglichkeiten“ geöffnet, etwa durch hybride Sitzungen.

Der Landtag hat inzwischen auch ein Eltern-Kind-Büro | Foto: Landtag

Die Parlamentspräsidentin brennt für dieses Thema, ihre Augen funkeln, wenn sie davon erzählt, wie wichtig ihr die Gleichstellung der Geschlechter auch im Hohen Haus sei, und wenn sie sich selber nicht ohne ein klein wenig Stolz als „feministische Landtagspräsidentin“ bezeichnet. Um Frauen allein geht es bei der Frage aber nicht. Das „Leitbild des politischen Zölibats“ habe ausgedient, meint Andretta. Dass Familie im Leben eines Politikers kaum Platz findet, sei schließlich „auch für junge Männer heutzutage nicht besonders attraktiv“. Das kann man auch bei den jungen Vätern im Landtag beobachten, von denen es mehrere gibt. Einer von ihnen hat nun erklärt, sich nicht erneut um ein Mandat zu bewerben.

„Das Leitbild des politischen Zölibats hat ausgedient. Das ist auch für junge Männer nicht mehr attraktiv.“

Lasse Weritz (CDU) zieht sich nach einer Legislatur aus dem Landtag zurück und begründet dies auch damit, dass ihm zu wenig Zeit für seine Familie bleibt. Sein jüngster Sohn ist jetzt anderthalb Jahre alt. Während die Pandemie den Abgeordneten von zuhause arbeiten ließ, habe er festgestellt, dass es sehr schön sein kann, mit der Familie Abendbrot zu essen oder am Wochenende gemeinsam zu frühstücken, erzählt er im Rundblick-Gespräch. Das Hindernis ist in seinem Fall allerdings nicht das Landtagsmandat an sich, wie er betont, sondern der Umstand, dass sein Wahlkreis Geestland von der Landeshauptstadt so weit entfernt liegt. Neben der normalen Parlamentsarbeit kämen also pro Tag noch fünf Stunden Fahrtzeit hinzu und am Wochenende dann alle möglichen Wahlkreistermine, die andere Parlamentarier mit kürzeren Wegen auch unter der Woche erledigen könnten.

Dissertation beschäftigt sich mit rechtlichen Möglichkeiten

Aber könnten die Rahmenbedingungen für Eltern mit Landtagsmandat nicht noch weiter verbessert werden? Eine Elternzeit ist für Mitglieder des Landtags nicht vorgesehen. Als frei gewählte Abgeordnete bleibt es komplett ihnen selbst überlassen, wie sie ihr Mandat ausüben. Es stünde ihnen frei, zuhause zu bleiben und sich um ihr Kind zu kümmern. Doch würden sie es tun, wäre die politische Karriere vermutlich beendet. Vor dieser Frage stand in der vergangenen Legislaturperiode auch die damalige Abgeordnete Kathrin Wahlmann (SPD) aus der Region Osnabrück. Nach ihrer Zeit im Landtag vertiefte sie die Fragestellung aus rechtswissenschaftlicher Perspektive und verglich mehrere Modelle, die denkbar wären: etwa ein ruhendes Mandat mit befristeter oder ganz ohne Nachfolgeregelung sowie die Möglichkeit, das Stimmrecht auf Kollegen der Fraktion zu übertragen, wie es in anderen Nationen praktiziert wird.

Hinter der Geschichte: Sowohl Laura Hopmann als auch Dörte Liebetruth rieten Rundblick-Redakteur Niklas Kleinwächter, für diesen Artikel unbedingt noch einmal persönlich mit Landtagspräsidentin Gabriele Andretta zu sprechen. Eigentlich sollte dieses Gespräch dann im Eltern-Kind-Büro des Landtags geführt werden. Doch das ließ sich partout nicht einrichten: Das Büro war einfach zu gut ausgelastet und ständig belegt. Deshalb traf man sich doch im Büro der Landtagspräsidentin. | Foto: Landtag/Rosengart

Laura Hopmann wirbt für eine politische Pflegezeit, in der die Fraktionen des Landtags zu einem Pairing verpflichtet werden sollten – die politischen Mitbewerber würden also auf eine Stimme verzichten, wenn auf der anderen Seite jemand gut begründet ausfällt. Sie kann sich dabei auch vorstellen, dass die Höhe der Diäten reduziert wird, während ein Abgeordneter familiären Verpflichtungen nachkommt. Pairing hält auch Dörte Liebetruth für eine gute demokratische Tradition, die schon in der vergangenen Wahlperiode angewandt worden sei. In ihrem eigenen Fall sei das bislang nicht notwendig gewesen. Sie könnte sich hingegen ein anderes Unterstützungsmodell für Abgeordnete, die Eltern geworden sind, vorstellen: Diese könnten für die entsprechende Zeit befristet zusätzliche Mitarbeiterstunden erhalten. So würde ihnen der Rücken freigehalten, aber sie könnten dennoch weiterhin am politischen Geschehen partizipieren.

Die rechtswissenschaftliche Abhandlung von Kathrin Wahlmann findet man übrigens in der Landtagsbibliothek. Ginge es nach Andretta, würden sich diejenigen, die nach der Wahl im Landtag den Ton angeben wollen, dieses Buch im Sommer noch einmal zur Lektüre ausleihen. Wenn sich der kommende Landtag dann eine neue Geschäftsordnung gibt, hofft Andretta, werden da auch neue Konzepte zur Vereinbarkeit von Familie und Landtagsmandat mit einfließen.