Wer sich in den kommenden Wochen vom Hauptbahnhof aus in die niedersächsische Landeshauptstadt begibt, dem wird sich ein ungewohnter Anblick darbieten. Die einst so stolze Reiterstatue vom „Landesvater“ König Ernst August von Hannover, die ihm „sein treues Volk“ erreichtet hat, ist verhüllt. Man kann sich zwar noch „unterm Schwanz“ treffen, wie das hier so üblich ist. Allerdings ist der Schwanz nun eingepackt. Ebenso der Sockel, das ganze Pferd und der Reiter darauf. Allerdings nicht in hübsches weißes Tuch, wie bei Christo. Sondern in schwarze Folie, eng anliegend, luftdicht, wie bereit zum Abtransport, fertiggemacht zum Einlagern.

Schwarm-Kunst vorm Hauptbahnhof: Der eingepackte Ernst August darf nun bekleckst werden | Foto: Niklas Kleinwächter

Doch eingelagert werden soll er gar nicht. Noch nicht zumindest. Bei dem Vorgang handelt es sich vielmehr um Kunst – genauer gesagt: Um eine Mitmach-Kunstaktion für Groß und Klein. In den vor uns liegenden Wochen bis zum Weihnachtsmarkt sollen die Passanten nämlich die Möglichkeit erhalten, mit Farbe das verhüllte übergroße Ebenbild des früheren Königs zu beschmieren. „Schwarmkunst“ nennt sich das dann, und lässt einen an die Schwarmintelligenz denken, und dann auch wieder nicht.

Angelehnt ist diese Aktion, die ursprünglich schon vor Corona und an vielen Standorten europaweit durchgeführt werden sollte, natürlich an die Protestaktionen gegen alle möglichen Denkmäler und Statuen, die irgendwie mit Kolonialismus, Krieg, Herrschaft oder Vergangenheit in Verbindung gebracht werden konnten. Besonders betroffen von diesem Phänomen war Großbritannien. Der Grund liegt auf der Hand: viel Geschichte, viel Kolonialismus, viele Statuen. Im Juni 2020 hat man als Reaktion auf den Tod des US-Amerikaners George Floyd und im Zusammenhang mit den daraus entstandenen „Black Lives Matter“-Demonstrationen beispielsweise in Bristol das Denkmal für den (Sklaven-) Händler Edward Colston vom Sockel gestürzt und im Hafen versenkt. Gleiches wollte man in London dann auch mit Winston Churchills Statue in der Themse tun.

Ganz so radikal mag man es im beschaulichen Hannover dann doch nicht. Deshalb wird hier das Denkmal ja erst verhüllt und dann beschmiert. Doch die Bilderstürmer-Bewegung ist längst auch in Niedersachsen angekommen. So ein Sturm kann aber auch schnell mal eskalieren. Das wusste auch schon Martin Luther, der nun seinerseits auf seinem Sockel vor der hannoverschen Marktkirche beschmiert wurde:

Martin Luther – Nazi-Idol? | Foto: Niklas Kleinwächter

Die Kunstaktion auf dem Ernst-August-Platz soll jedenfalls zur Reflexion über die Bedeutung dieser Denkmäler für die Identität der hier lebenden Bevölkerung einladen (was mit diesem Text getan wird). Das kann spannend werden und vor allem beim König Ernst August wie beim Reformator Luther kontrovers diskutiert werden. Als ich aber kürzlich das Bodini-Denkmal der Göttinger Sieben vorm niedersächsischen Landtag betrachtet habe, fiel mir auf, dass dort nicht nur der auf dem Ross reitende König mit violetter Farbe beschmiert wurde, sondern gleich auch alle widerständigen Wissenschaftler mit ihm. Eine Auseinandersetzung damit, wer diese dargestellten Männer waren und was sie für unsere niedersächsische Geschichte und Identität geleistet haben mögen, hat vermutlich nicht stattgefunden. (Es sei denn, man wirft den Gelehrten nun vor, dass sie ja nur Männer waren und keine Frau bei ihnen. Ausschließen mag ich das nicht mehr, aber fragen kann ich ja auch niemanden.)

Despot oder Freiheitskämpfer? Dem Bilderstürmer sind die Details egal | Foto: Niklas Kleinwächter

Der politisch begründete Vandalismus gegen Denkmäler und Statuen hat natürlich einen ideologischen Überbau, der im englischsprachigen Fachterminus als woke bezeichnet wird und in den USA seit geraumer Zeit en vogue ist. Gemeint ist damit ein „erwachtes Bewusstsein“, das eine besondere Sensibilität für Unterdrückungsstrukturen, Diskriminierung, Rassismus oder Sexismus zeigt.

Setzt sich diese Bewegung nun auch in Europa durch? In Frankreich hat jedenfalls der linksliberale Präsident Emmanuel Macron seinen Bildungsminister kürzlich einen neuen staatlichen Thinktank einrichten lassen, der die Franzosen nun genau vor diesem speziellen US-Import schützen soll. Der Gedankengang dahinter ist bemerkenswert: Macron will nicht etwa eine antirassistische Haltung verhindern. Er interpretiert nur die Präsidentschaft Donald Trumps als direkte Gegenreaktion auf die Woke-Bewegung in den Vereinigten Staaten. Macron selber, so heißt es, fürchtet sich nun vor dem Aufstieg eines französischen Trumps. Mit Éric Zemmour tritt so jemand bei der Präsidentschaftswahl 2022 an.

Bislang ist nicht bekannt, ob es auch in Niedersachsens Kultus- oder Bildungsministerium die Bestrebung gibt, gegen die Welle der Woke-ness mittels Thinktank anzugehen. Über die Identität des Landes wird derweil dieser Tage häufig gesprochen. Beispielsweise in der kommenden Woche, wenn das Land Niedersachsen sein 75-jähriges Bestehen feiern kann. Welchen Beitrag haben dazu König Ernst August, Reformator Martin Luther oder die Wissenschaftler aus Göttingen geleistet? Denken Sie doch mal drüber nach, wenn sie einen Farbbeutel gegen eine verhüllte Reiterstatue werfen.