Jörg Nigge (CDU), Oberbürgermeister der Stadt Celle, übt scharfe Kritik an den Programmen von Bund und Ländern zur Bewältigung der Corona-Krise. Er befürchtet den Schutz von „Zombie-Firmen“ und sieht einen Verstoß gegen die Generationengerechtigkeit. Nigge sprach mit der Redaktion des Politikjournals Rundblick.

Rundblick: Herr Nigge, was stört sie an der Reaktion von Bundesregierung und Landesregierungen auf die Corona-Pandemie?

Nigge: Wir leben in einer Zeit, in der Staatsschulden mehr denn je en vogue sind und der Staat in einem nie da gewesenem Maße in die Wirtschaft eingreift. Laut IWF unterstützt derzeit weltweit kein anderes Industrieland die heimische Wirtschaft so stark wie Deutschland. Bundesfinanzminister Olaf Scholz diktiert die muntere Verteilungsorgie wie folgt: „Hier wird nicht gekleckert. Hier wird geklotzt.“ Die Rede ist von staatlichen Unterstützungsprogrammen im Billionenbereich.

Rundblick: Sie sagen „Verteilungsorgie“. Das ist ein hartes Wort…

Nigge: Ich frage mich, wie lange das noch gut geht, wenn der Staat massiv in das Marktgeschehen eingreift. Wie hoch ist der Preis dieser übermäßigen Verteilungspolitik für die zukünftigen Generationen? Wie innovationsstark kann eine Wirtschaft sein, die durch den Staat künstlich am Leben gehalten wird? „So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig“, lautet ein bekanntes Spannungsverhältnis aus den Wirtschaftswissenschaften. Bis heute wird unter Ökonomen, aber auch in Politik und Öffentlichkeit, über das richtige Maß staatlicher Eingriffe gestritten. Derzeit sind in den Zeiten von Corona Dirigismus und saftige Konjunkturspritzen omnipräsent. Man könnte fast behaupten: Der Staat wird zum Sozialamt. Mit gigantischen Summen wird bislang die Wucht eines noch stärkeren Konjunkturabsturzes abgefedert. Es geht dabei insbesondere um großzügige Kurzarbeiterregeln oder milliardenschwere Überbrückungshilfen, die den Schaden in Grenzen halten sollen.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Rundblick: Was ist denn daran so falsch, immerhin sichert es doch viele Firmen vor einem durch das Virus ausgelösten Zusammenbruch, oder?

Nigge: Sicher, es ist richtig, Hilfen für diejenigen Unternehmen auf den Weg zu bringen, die aufgrund des Corona-Lockdowns unverschuldet Einbußen zu verzeichnen haben. Gleichwohl sind Konjunkturmaßnahmen als befristete Instrumente zu sehen und kein Allheilmittel. Die gegenwärtige Flut an staatlichen Unterstützungsprogrammen verstärkt die Gefahr von Fehlallokationen, denn Kapital und Arbeitskräfte werden in Unternehmen mit unterdurchschnittlicher Produktivität, geringerer Investitionstätigkeit und Innovationskraft gebunden. So probat und richtig staatliche Hilfen zu Beginn der Krise waren, so fatal wird die Wirkung, wenn wirtschaftliche Strukturen künstlich aufrechterhalten werden. Besonders gravierend ist es, wenn die Corona-Konjunkturprogramme dem Prinzip Gießkanne unterliegen und nicht zielgerichtet helfen.

Die wegen der Coronakrise ausgesetzte Insolvenzantragspflicht von Firmen, die das eigentlich mitteilen müssten, wird nach Ansicht von Experten zu einer gewaltigen Anzahl sogenannter „Zombieunternehmen“ führen.

Rundblick: Übertreiben Sie jetzt nicht ein wenig?

Nigge: Creditreform beispielsweise beziffert die Zahl der verdeckt überschuldeten Unternehmen auf 550.000 Euro. Die wegen der Coronakrise ausgesetzte Insolvenzantragspflicht von Firmen, die das eigentlich mitteilen müssten, wird nach Ansicht von Experten zu einer gewaltigen Anzahl sogenannter „Zombieunternehmen“ führen, also hoch verschuldeter Unternehmen, die sich auf dem Weg in eine Corona-Pleitewelle mit unvorhersehbarer Kettenreaktion befinden.

Die auf Pump finanzierte Wirtschaftspolitik darf nicht maßlos sein und muss zum richtigen Zeitpunkt beendet werden.

Rundblick: Aha, Sie sehen also für die Zukunft noch trüber…

Nigge: Wir müssen uns eingestehen, dass die derzeitige Ruhe trügerisch ist und das wahre Ausmaß des Konjunktureinbruches durch den staatlichen Schutzmantel kaschiert wird. Die auf Pump finanzierte Wirtschaftspolitik darf nicht maßlos sein und muss zum richtigen Zeitpunkt beendet werden. Ansonsten droht aufgrund des demografischen Wandels und angesichts wegbrechender Steuereinnahmen die Finanzierung der Sozialkassen zum Fiasko für Steuerbürger und Beitragszahler zu werden. Insofern hat alles ein Preisschild, auch die wirtschaftlichen Folgen der Pandemiebekämpfung.

Rundblick: Was sind Ihre daraus folgenden Ratschläge?

Nigge: Wir brauchen Zukunftsmut und vor allem müssen wir die Generationengerechtigkeit im Blick behalten, denn diese erfährt derzeit ihre zynische Übersetzung. Die Kosten der Gegenwart werden kurzerhand auf Konten transferiert, die in Zukunft bedient werden müssen. Dass die vom Bund aufgenommenen Schulden in Höhe von 218 Milliarden Euro eine immense Hypothek für die jüngere Generation darstellen, ist ja bereits allgemeiner Konsens. Fest steht, dass die Jüngeren, die sich während der Corona-Krise solidarisch gegenüber den Älteren zeigen, von den wirtschaftlichen Folgen überproportional hart getroffen werden. Jüngsten Berechnungen der Stiftung Marktwirtschaft zufolge liegt die „fiskalische Nachhaltigkeitslücke“ bei 345 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Umgerechnet entspricht das einem Gesamtschuldenberg der öffentlichen Hand von 11,9 Billionen Euro. Zur unbequemen Wahrheit gehört dazu, dass der deutlich größere Teil – rund 80 Prozent – auf die implizite Staatsschuld, also die verdeckte Staatsschuld, entfällt. Dahinter verbergen sich alle nicht gedeckten staatlichen Leistungsversprechen für die Zukunft.

Rundblick: Was sollte man also Ihrer Meinung nach tun?

Nigge: Es ist schon heute unsere Pflicht, zielgenau gegenzusteuern und die staatlichen Schuldenberge durch ein hohes Wirtschaftswachstum abzubauen. Dafür bedarf es neben notwendigen Steuerstrukturreformen, insbesondere bei der Unternehmensbesteuerung, vor allem gründerfreundliche Rahmenbedingungen. Start-Ups sind für die Zukunftsfähigkeit einer Volkswirtschaft von elementarer Bedeutung – das gilt erst recht in Krisenzeiten, in denen Transformationsprozesse verstärkt werden und die Geburtsstunde etlicher Start-Ups schlägt. Aber auch die Kultur des Scheiterns muss eine neue Qualität und eine neue Anerkennung erfahren. Wir brauchen die Menschen, die sich ausprobieren. Menschen, die aus einem Rückschlag eine zukünftige Erfolgsstory formen. Wir müssen das Neue fördern und nicht das Alte mit aller Macht erhalten. Gerade jetzt brauchen wir Innovationen, um etablierte Unternehmen herauszufordern, Arbeitsplätze zu schaffen und die Modernisierung der Wirtschaft auf den Weg zu bringen. Warum behandeln wir also Start-Ups wie Unternehmen zweiter Klasse? In Niedersachsen ist das Start-Up-Ökosystem laut einer aktuellen IW-Studie defizitär. Es fehlen im Vergleich zu Start-Up-Avantgardisten wie NRW regionale und institutionelle Anker, wie universitäre Gründungsinitiativen und Digital Hubs des Bundes. Arbeiten wir also daran, entsprechende „Start-Up-Booster“ ins Leben zu rufen, um den Weg für die jungen Technologieunternehmen und die kleinen Mittelständler von morgen zu ebnen. Lieber zielgenau die Unternehmen von Morgen retten, als die Zombies von gestern künstlich am Leben zu halten. Unsere Kinder und Kindeskinder verdienen nicht nur ein soziales und ökologisches, sondern auch ein wirtschaftliches Erbe, das Chancengerechtigkeit und Teilhabe für alle sicherstellt, unabhängig vom Elternhaus und dem Geburtsort.