Besser zuhause bleiben: Wissenschaftler debattieren: Braucht die Wissenschaft die Auslandsreisen überhaupt noch? | Foto: GettyImages/Antonio Diaz

Alexander von Humboldt ist seinerzeit um die ganze Welt gereist, um sie zu sehen, zu verstehen, zu beschreiben und zu kategorisieren. Er hat damit das Forschungsideal begründet. Inzwischen gerät die Selbstverständlichkeit der international mobilen Wissenschaft jedoch in eine Schieflage. Mehrere Umstände sorgen dafür, dass Auslandsreisen im Wissenschaftsbetrieb zunehmend in Frage gestellt werden. Da ist zunächst die sehr praktische Bedrohung durch die Corona-Pandemie, die den Reiseverkehr weltweit eingeschränkt hat. Es geht dabei aber auch um den Klimawandel, denn jede Flugreise setzt schädliche Abgase frei und will deshalb gut begründet werden. Austauschprogramme und internationale Kongresse stehen zunehmend unter Rechtfertigungsdruck.

Und dann kommen noch die politischen Krisen hinzu – autoritäre Regime, verunsicherte Staatenlenker, Handelskriege. Wo passt da noch Wissenschaft dazwischen? All das führte in der vergangenen Legislaturperiode sogar dazu, dass der Wissenschaftsausschuss des Deutschen Bundestages offen über die Sinnhaftigkeit einer internationalisierten Wissenschaft diskutierte – und auch die staatlichen wie privaten Fördereinrichtungen fragen sich inzwischen vermehrt: Wem nützt das eigentlich wirklich?

Auf einer weitgehend klimaneutralen Auslandsreise erforschten Alexander von Humboldt und sein Freund Aimé Bonpland im Jahr 1800 den Orinoco. | Illustration: GettyImages/Dorling Kindersley

Wie üblich, wenn sich Wissenschaftler eine Frage stellen, beginnen sie zu forschen: Wissenschaft über Wissenschaft. Der emeritierte Professor Hans-Dieter Daniel vom Psychologischen Institut der Universität Zürich, Experte für empirische Hochschulforschung, hat genau das getan. Bei einer Online-Diskussionsrunde der Fachzeitschrift Wissenschaftsmanagement stellte er die Ergebnisse seiner Untersuchung über Vor- und Nachteile der Internationalisierung von Wissenschaft vor. Zunächst stellte er dabei fest, dass die bisherige Evaluationspraxis der Förderwerke meist nur den Einfluss auf die Geförderten selbst erfasst, nicht aber jenen auf die wissenschaftliche Gemeinschaft, die Hochschulen oder gar Gesellschaft und Politik.

Forscher stellen fest: Auslandsreisen nützen Wissenschaftlern

Anhand der Daten der in Niedersachsens Landeshauptstadt ansässigen Volkswagenstiftung sowie der Humboldt-Stiftung hat das Forschungsteam rund um Prof. Daniel deshalb nun weitere Analyseebenen hinzugefügt: neben den Einflüssen auf die Stipendiaten werden also auch die Wirkungen auf die universitären Arbeitsgruppen in Deutschland und die institutionellen Effekte untersucht. Hinsichtlich der Geförderten ist das Ergebnis wenig überraschend. Diese gaben vielfach an, dass der Auslandsaufenthalt förderlich war für ihre eigene Karriere: Ein beträchtlicher Teil dieser Wissenschaftler erhielt anschließend eine unbefristete und deutlich höher dotierte Stelle als zuvor. Die Betroffenen stellten selbst fest, dass ihre Forschung international sichtbarer geworden ist, was sich laut Studie auch anhand der Zitier-Quote nachvollziehen lässt. Zudem gaben sie an, dass die Zeit im fremden Land maßgeblich zur persönlichen Entwicklung beigetragen habe.

Aber wie verhält es sich mit den neuen Betrachtungsgegenständen? Laut Prof. Daniel profitierten auch die Arbeitsgruppen vom Auslandsaufenthalt einzelner Forscher – entweder von Deutschen im Ausland oder von Ausländern in Deutschland. Doktoranden brächten neue Forschungsmethoden oder Theorien mit in die universitären Zirkel. Außerdem dauerten die entstandenen Kooperationen häufig noch über das Auslaufen des Stipendiums hinaus an. Die gesamten Institutionen hätten einen klaren Mehrwert durch die Publikationen der Austauschwissenschaftler sowie durch den Umstand, dass sich diese durch die Beratung der Master-Studenten auch in der Forschung einbringen.

90 Prozent aller Institute bleiben in Kontakt

Zudem kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass durch die Austauschprogramme die internationalen Netzwerke Deutschlands gestärkt werden, denn 90 Prozent der Einrichtungen blieben auch nach der Förderung noch mit den Arbeitsgruppen und Institutionen der Stipendiaten in Kontakt. Für Politik, Kultur und Ökonomie der Bundesrepublik sei der internationale Austausch ein Pluspunkt, weil dadurch ein positives Deutschlandbild vermittelt wird. Zudem blieben einige Austauschstudenten als Fachkräfte in Deutschland oder kämen irgendwann wieder hierher zurück, verrät die Daniel-Studie. Wie viele bleiben müssten, damit durch ihre Steuerleistungen die Fördersummen wieder eingespielt werden, ist derweil noch nicht erfasst worden.

Was lässt sich mit diesen Erkenntnissen nun also anfangen? Zunächst scheint die Studie zu bestätigen, dass internationaler Austausch positive Effekte hat. Doch eigentlich sind die Zahlen, die der Empiriker zutage gefördert hat, nicht interpretierbar, weil zuvor keine Zielmarken festgelegt worden sind – sagt Prof. Daniel selbst. Von den Wissenschaftspolitikern und den Fördereinrichtungen fordert er deshalb ein Wirkmodell: „Wenn man ein Programm auflegt, muss klar sein, welche Wirkung man damit erzielen möchte.“ Und wenn man sich dann darauf verständigt, dass man mehr fördern möchte als nur die persönliche Entwicklung des Individuums, dann muss das Wirkmodell Auskunft darüber geben, an welchen Stellschrauben gedreht werden kann, um das gewünschte Resultat auch erzielen zu können.

Für die großen Einrichtungen der Wissenschaftsförderung ist diese Erkenntnis nicht ganz neu, sie arbeiten allesamt bereits mehr oder weniger erfolgreich an Wirkmodellen, wie Prof. Daniel sie fordert. Bei der Bonner Humboldt-Stiftung nennt man das „Intervention Logics“, wie deren Generalsekretär Enno Aufderheide berichtete. Bei der niedersächsischen Volkswagenstiftung trägt das Modell in der Entwicklungsphase noch den kryptischen Namen „IOOI“ für Input, Output, Outcome und Impact, skizzierte Stiftungs-Generalsekretär Georg Schütte. Beim Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) heißt das ganze wiederum „wirkungsorientiertes Monitoring“, wie Kai Sicks erklärte.

Es gibt einen großen Mehrwert durch das persönliche Vorortsein.

Kai Sicks, DAAD-Geschäftsführer

Der DAAD-Generalsekretär berichtete zudem, dass man sich in seiner Einrichtung sicher sei, dass der persönliche Austausch der Wissenschaftler nicht durch digitale Formate zu ersetzen, sehr wohl aber zu ergänzen sei. „Es gibt einen großen Mehrwert durch das persönliche Vorortsein. Die Spontaneität der Zusammenkunft, die Kreativität im Zwischenraum des Zusammentreffens steht bei all dem, was wir tun, im Mittelpunkt. Aber wir wissen auch heute schon ohne Studien, dass wir den Austausch durch digitale Formate intensivieren können.“ So werden DAAD-Stipendiaten inzwischen schon im Vorfeld eines Austauschs auch virtuell vernetzt, im Anschluss werden transnationale Forschungs-Communitys auf diese Weise zusammengehalten.

Humboldt-Stiftung vergibt bereits virtuelle Stipendien

Die Humboldt-Stiftung vergibt inzwischen sogar virtuelle Stipendien für Alumni. Aufderheide kündigte an, dass man darüber nachdenkt, dieses Format auch auf die Grundstipendien auszuweiten. Eine gewisse Skepsis bleibt jedoch auch bei ihm bestehen: „Wir brauchen Forschung, um herauszufinden, wie sich physische und virtuelle Präsenz auf die intellektuelle Mobilität auswirken. Ich teile die Zweifel daran, dass virtueller Austausch ausreichen wird. Der Wirkungsgrad wird meist durch zufällige Begegnungen bei Kaffeepausen oder Wanderungen, über Freundschaften und die Erweiterung des kulturellen Horizonts erreicht“, sagt Aufderheide.

Schütte von der Volkswagenstiftung appellierte sogar an mehr Selbstbewusstsein der Wissenschaft gerade im Hinblick auf die internationalen Krisen. Er skizzierte das Wechselverhältnis von Wissenschaft und Diplomatie, die beide einander bedürften. Noch bevor die Bundesrepublik diplomatische Beziehungen zum neuen Staat Israel aufgenommen hatte, seien Wissenschaftler dort gewesen, erinnerte er. Dadurch sei die Anzahl der Akteure auf dem diplomatischen Parkett erweitert worden. Die Wissenschaft, so Schüttes Plädoyer, dürfe sich da nicht wieder herausziehen. Denn zum einen sei die Forschung zur Bewältigung internationaler Krisen wie des Klimawandels auf staatenübergreifende Kooperation angewiesen. Zum anderen kann die Wissenschaft seiner Ansicht nach auch heute noch als Mediator auftreten. Eine Wirkung, die weit über den persönlichen Vorteil eines Stipendiaten hinausreichen kann.