Nach der Wahl ist vor der Wahl – und selten war dieser Spruch so gültig wie in diesem Jahr in Niedersachsen. Denn wenn die Kommunalwahlen und die Bundestagswahl im September vorüber sein werden, bleibt maximal nur noch rund ein Jahr bis zur Landtagswahl 2022. Wenn nun in den Kreistagen und Räten größere Verschiebungen erkennbar werden sollten, dürfte das die Nervosität der Parteien befördern. Noch stärker gilt das für die Bundestagswahl.

Ein stabilisierendes Element der seit 2017 funktionierenden Großen Koalition im Landtag ist die Tatsache, dass auf Bundesebene die gleiche Farbenkonstellation den Ton angibt. Damit kann die Landes- mit der Bundesregierung am gleichen Strang ziehen, es herrscht eine gewisse Disziplin. Aus der Sicht im Frühjahr 2021 allerdings scheint es wenig wahrscheinlich zu sein, dass Union und SPD in Berlin erneut zusammen regieren werden. Vielleicht gibt es Schwarz-Grün, vielleicht ein Bündnis aus Grünen, SPD und FDP – oder ein Linksbündnis von Grünen, SPD und Linkspartei.

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Auf jeden Fall hört man in den verschiedenen Lagern, dass sich die Politiker auf unruhigere Zeiten auch im Landtag einstellen. Nicht ohne strategischen Grund wird bis zu den Sommerferien ein „Doppelhaushalt“ aufgestellt, der Ausgaben für 2022 und 2023 beschreibt. Damit entbindet sich die SPD/CDU-Koalition der Pflicht, im Frühjahr und Sommer 2022 – also wenige Monate vor der Landtagswahl – einen neuen Haushaltsplan aufzustellen und sich über Ausgaben und Einsparungen zu verständigen.

Da die wesentlichen Gesetzesvorhaben der Koalition dann auch schon abgeschlossen sind, schafft das Freiheiten für neue Szenarien. In den Strategie-Zirkeln der Parteien werden Planspiele diskutiert und wieder verworfen – alle verbunden mit dem Ziel, die jeweilige Ausgangsposition im Landtagswahlkampf zu verbessern. Der früheste Landtagswahltermin wäre übrigens der 17. Juli 2022, der späteste der 9. Oktober 2022. Hier ein paar denkbare strategische Varianten:

Tausch der Spitzenkandidaten bei SPD oder CDU?

Bisher haben Ministerpräsident Stephan Weil (62) und CDU-Landeschef Bernd Althusmann (54) erklärt, wieder Spitzenkandidaten werden zu wollen. Doch Weil wird 2022 schon neun Jahre im Amt sein, er steht für Beständigkeit, nicht für Aufbruch und Erneuerung. Althusmanns Popularitätswerte liegen weit hinter denen von Weil, er muss mit neuen Ideen punkten. Sollte Weil kurzfristig doch verzichten, kämen vier Bewerber als neue Nummer eins der SPD in Frage: Innenminister Boris Pistorius (61), Umweltminister Olaf Lies (54), die neue Sozialministerin Daniela Behrens (54) oder Kultusminister Grant Hendrik Tonne (44) als Vertreter der nächsten Generation. Vor allem Lies wird nachgesagt, er strebe nach Höherem und feile an seinem Bekanntheitsgrad.

Falls Althusmann sich bei der CDU zurückziehen sollte oder als Minister in die nächste Bundesregierung geht, wäre die Nachfolge in Hannover unklar. Von den christdemokratischen Ministern würde wohl niemand die Position des Landtags-Spitzenkandidaten anstreben, der profilierte Fraktionschef Dirk Toepffer (55) vermutlich auch nicht. Vize-Landeschef und MdB Fritz Güntzler (54) aus Göttingen könnte einspringen, als populärer Kommunalpolitiker wäre auch Salzgitters OB Frank Klingebiel (56) vorstellbar – und ebenso Silvia Breher (47) aus Cloppenburg, die Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl.

Mittelfristig könnte die CDU den Generationswechsel wagen und Landes-Generalsekretär Sebastian Lechner (40) an die Spitze wählen. In der Landtagsfraktion könnten die Fraktionsvizes Uwe Schünemann (56) und Ulf Thiele (50) aufsteigen – sofern sie denn überhaupt auf breite Akzeptanz stoßen.

Bruch der Koalition?

Sollte die CDU bei der Bundestags- und Kommunalwahl eine dramatische Schlappe erleiden, könnte sie auf Konfrontation schalten, die Minister könnten zurücktreten, Weil würde mit einer Minderheitsregierung bis zur Landtagswahl durchhalten müssen – vielleicht würde mit einer Selbstauflösung des Landtags auch die Landtagswahl vorgezogen. Althusmann würde dann als Oppositionsführer die SPD frontal angreifen können. Das ist nach heutigem Stand aber unwahrscheinlich, da Sozial- wie Christdemokraten betont staatstragend und verantwortungsbewusst auftreten – ein Verhalten, das gerade in der Zeit der Corona-Krise auch von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung erwartet werden dürfte.

Außerdem sieht die CDU einen Vorteil darin, den Wahlkampf mit vier amtierenden Ministern führen zu können, denn jeder Minister gilt in Wahlkampfzeiten als Zugpferd. Nur ein Argument spräche für einen Koalitionsbruch: Auf einen Schlag könnte Althusmann damit seine Bekanntheit steigern. Ob auch seine Beliebtheit, steht jedoch in Frage.

Bewegung bei Grünen und FDP?

Die FDP erscheint gegenwärtig gut sortiert zu sein. In der Corona-Krise hat Partei- und Fraktionschef Stefan Birkner sein Profil als starker Oppositionspolitiker geschärft, parteiinterne Kritiker sind verstummt, das strategische Dilemma von 2017 ist überwunden. Birkner dürfte Spitzenkandidat werden und sich vor der Wahl nicht festlegen, ob er an der Seite von SPD, CDU oder Grünen mitregieren will. Klar scheint zu sein: Die FDP will das nächste Mal an die Macht.

Bei den Grünen ist die Lage nicht so eindeutig. Fraktionschefin Julia Hamburg, deren Fleiß und Organisationsgeschick allgemein gelobt wird, hat öffentlich noch nicht die Rolle als Leitfigur ihrer Fraktion gefunden. Zwei starke Vertreter der Landtagsfraktion, Stefan Wenzel und Helge Limburg, streben in den Bundestag, könnten aber einen sicheren Listenplatz verfehlen. Beide wären im Prinzip auch als Landtags-Spitzenkandidaten vorstellbar – für den wendigen und polarisierenden Christian Meyer gilt das weniger.

Mit Blick auf die strategische Ausrichtung indes hat die noch offene Personalfrage bei den Grünen wenig Relevanz: Die Präferenz bei der Partei dürfte auf einer Ampel-Koalition liegen, die Anhängerschaft für Schwarz-Grün gilt bei Niedersachsens Grünen als ausgesprochen gering (bei der CDU übrigens auch).

Veränderungen an den Rändern?

Die Linke in Niedersachsen hat gerade ihre Chance vertan, mit einer jungen Sympathieträgerin als Spitzenkandidatin zur Landtagswahl anzutreten – denn Heidi Reichinnek (32), die Landesvorsitzende, hat einen sicheren dritten Listenplatz für die Bundestagswahl bekommen und driftet damit ziemlich sicher in die Bundespolitik ab. Die Linke dürfte Mühe haben, ein vergleichbares Personalangebot für die Landtagswahl zu finden.

Die niedersächsische AfD wirkt gespaltener denn je zwischen den völkisch-nationalen Kräften rund um den Landesvorsitzenden Jens Kestner und den Anhängern der früheren Landesvorsitzenden Dana Guth, die inzwischen die Partei verlassen hat. Sollte sich das gemäßigtere Lager durchsetzen, wäre der frühere Bundeswehr-General Joachim Wundrak als neue Leitfigur vorstellbar. Allerdings strebt auch er in den Bundestag. In jedem Fall bleibt die AfD für die anderen „unberührbar“, kann also in keine mögliche Mehrheitsbildung einbezogen werden. Die Abspaltung am „linken Rand“ der AfD, zu der Guth gehört und die den Namen LKR trägt, hat bisher noch keine nennenswerte Stärke entwickelt – sie dürfte für die Landtagswahl keine Rolle spielen. (kw)