E-Scooter und Sicherheit: Leihanbieter in der Kritik – Fußgängerschutz im Fokus

Die Zahl der E-Scooter wächst rasant: Rund eine Million waren 2023 bereits in Deutschland zugelassen – 30 Prozent mehr als noch im Jahr zuvor. Gleichzeitig hat auch die Zahl der Unfälle mit Elektro-Tretrollern zugenommen, wobei die Fahrzeuge der Leihanbieter durch eine deutlich höhere Unfallhäufigkeit auffallen als diejenigen im Privatbesitz. „40 Prozent der Haftpflichtschäden passieren durch Leihfahrzeuge, die aber nur 20 Prozent der E-Scooter insgesamt ausmachen“, sagte Anja Käfer-Rohrbach vom Gesamtverband der Versicherer (GDV) beim Verkehrsgerichtstag 2025 in Goslar und forderte mehr Schutz für Fußgänger. Auch andere Verbandsvertreter sehen den Boom der Elektrokleinstfahrzeuge kritisch und sprachen sich bei der Straßenverkehrsrechtkonferenz für strengere Regeln für Leih-Scooter aus. Die Branche fühlt sich dagegen zu Unrecht aufs Korn genommen.
„Tatsächlich handelt es sich um relativ wenige Unfälle und die relativen Unfallzahlen sinken – das ist erst mal ein positives Zeichen. Das Fahren und Nutzen unserer Leihfahrzeuge ist relativ sicher“, erwiderte Anna Montasser, PR-Chefin beim E-Scooter-Verleiher „Lime“ und Vertreterin der Plattform Shared Mobility (PSM). Dort sind neben dem amerikanischen Fahrrad- und Rollervermieter auch die Mitbewerber „Voi“ und „Bolt“ organisiert. Zusammen mit „Dott“ (ehemals „Tier“) kommen die vier großen Scooter-Verleiher in Deutschland im Jahr 2023 auf über 100 Millionen Fahrten. Demgegenüber stehen laut Statistischem Bundesamt bundesweit 9425 E-Scooter-Unfälle mit Personenschaden – 14,1 Prozent mehr als 2022 (8260 Unfälle). Die Zahl der Todesfälle verdoppelte sich auf 22. Laut Polizeistatistik sind vier von zehn verunglückten E-Scooter-Fahrern jünger als 25 Jahre. Die GDV-Unfallforschung erklärt das damit, dass jüngere Menschen häufiger Leihfahrzeuge nutzen, weniger geübt im Gebrauch der Scooter sind und häufiger auf Gehwegen fahren. „Die Unfälle passieren vor allem mit Zu-Fuß-Gehenden – und zwar mit einem höheren Prozentsatz als bei Fahrradfahrern“, sagte Käfer-Rohrbach. Die stellvertretende GDV-Hauptgeschäftsführerin hält auf Gehwegen und in Fußgängerzonen die Drosselung der Elektroroller auf 20 Stundenkilometer nicht für ausreichend: „Gerade bei älteren Personen kann da schon einiges passieren.“

Wolfram Hell, Präsident der Gesellschaft für Medizinische und Technische Traumabiomechanik, brachte eine Helmpflicht ins Spiel. „Die größte Gefahr besteht darin, mit dem Kopf bei Tempo 20 auf die Bordsteinkante zu prallen“, sagte der Mediziner. Er verwies zudem auf Kroatien und Spanien, wo E-Scooter bei Dunkelheit nur mit reflektierender Bekleidung benutzt werden dürften. Montasser nannte dagegen das Beispiel Israel, wo bereits eine Helmpflicht für Elektroroller gilt. „Das Resultat ist: Die Menschen tragen die Helme trotzdem nicht“, sagte die Branchenvertreterin. Zudem gebe es praktische Probleme bei der Bereitstellung solcher Helme, die auch Käfer-Rohrbach einräumte. „Wo soll ich diesen Helm dranpacken?“, fragte selbst die Vertreterin der Unfallversicherer. Montasser erinnerte ferner daran, dass es für Fahrräder ebenfalls keine verbindliche Helmpflicht gebe. „In Stockholm tragen 90 Prozent der Fahrradfahrer freiwillig einen Helm. Wir brauchen einen Wechsel des Mindsets“, forderte Trauma-Experte Hell.
„Die Mobilität einer winzigen Gruppe wird verbessert, die Mobilität einer viel größeren Gruppe wird verschlechtert.“
Als „stärkste E-Scooter-Gegner“ des Landes outete sich der Fußgängerschutzverein „Fuss“ in Person von Vorstandsmitglied Roland Stimpel. Die elektrischen Tretroller würden im Verkehr gerade einmal für ein Promille aller Wege genutzt werden. „Die Mobilität einer winzigen Gruppe wird verbessert, die Mobilität einer viel größeren Gruppe wird verschlechtert“, ärgerte sich Stimpel über den Aufschwung der E-Scooter. „Wir müssen das zivilisieren und bändigen“, forderte er. Verkehrsreferent Thomas Kiel d’Aragon vom Deutschen Städtetag (DST) regte an, dass die Anbieter ihre Elektroroller in Fußgängerzonen über das sogenannte „Geofencing“ auf Schrittgeschwindigkeit drosseln sollten. „In Wien fahren E-Scooter bereits gedrosselt mit 6 km/h in der Fußgängerzone“, sagte er. „Hier in Deutschland ist das nicht zugelassen, deswegen machen wir das nicht“, entgegnete Montasser. Außerdem kritisierte die Branchensprecherin, dass solche Maßnahmen nur für Elektroroller vorgeschlagen werden, während E-Bikes, Pedelecs oder Leihfahrräder ungedrosselt unterwegs sein dürfen. „Warum reduzieren wir das immer auf den E-Scooter, wenn es dieselben Nutzenden gibt wie bei den anderen Fahrzeuggattungen?“, fragte Montasser und sagte: „Das muskelbetriebene Fahrrad fährt im Durchschnitt schneller als der E-Scooter maximal.“ Weitere Einschränkungen würden vor allem dazu führen, dass der bislang niedrigschwellige Zugang zu E-Scootern erschwert werde. „Wir konkurrieren im Leihsystem mit anderen Anbietern“, betonte sie und verwies darauf, dass die Branche keine Subventionen bekomme.
Umstritten war auch die Frage, ob die Rollervermieter genug unternehmen, um Fahrten unter Alkoholeinfluss zu verhindern. „Das ist ein ganz großes Thema für uns. Wir als Unternehmen haben eine Toleranzgrenze von Null“, sagte Montasser und erklärte: „Wir haben Reaktionstests in den Apps vorgeschaltet, die man erst bestehen muss, bevor man überhaupt erst die Nutzung beginnen kann.“ Kirstin Zeidler, Leiterin der Unfallforschung der Versicherer, äußerte jedoch Zweifel an der Wirksamkeit dieser Tests. „E-Scooter-Alkoholunfälle sind doppelt so hoch wie beim Fahrrad“, sagte sie. Und Polizist Claus Hering vom Bund gegen Alkohol und Drogen im Straßenverkehr (BADS) berichtete von seiner letzten Großkontrolle zu diesem Thema: „Innerhalb von fünf Stunden haben wir insgesamt 60 E-Scooter-Fahrer unter Alkohol- und Drogeneinfluss festgestellt.“ Branchenvertreterin Montasser räumte ein, dass es nicht schwer sei, die App auszutricksen. „Wir können und dürfen aber keinen Bluttest machen.“ Die Mobilitätsanbieter setzen daher auf Aufklärungskampagnen und die enge Zusammenarbeit mit der Polizei.
„Es sollte hier weder für Räder noch für E-Scooter Ausnahmen geben.“
Trotz unterschiedlicher Positionen waren sich alle Experten auch in einigen Punkten weitgehend einig. „Wir drängen darauf, dass mehr Abstellflächen für E-Scooter eingerichtet werden“, sagte Montasser. Die Mobilitätsanbieter versprechen sich dadurch nicht nur mehr Ordnung, sondern auch mehr Sicherheit. „Wenn Scooter in direkter Nähe zum Radweg geparkt werden, reduziert sich auch ein Teil der Gehwegfahrten“, so die Lobbyistin. Käfer-Rohrbach betonte: „Um E-Scooter von Gehwegen fernzuhalten, braucht es mehr und bessere Radwege.“ Einen Entwurf des Verkehrsministeriums, wonach E-Scooter auf Gehwegen und in Fußgängerzonen, die für den Radverkehr freigegeben sind, sogar offiziell zugelassen werden sollen, lehnten alle Diskussionsteilnehmer in Goslar klar ab. „Die Aufhebung der Benutzungspflicht für Radwege zahlt nicht auf die Verkehrssicherheit ein“, sagte DST-Verkehrsreferent Kiel d’Aragon. „Fuss“-Vorstand Stimpel kritisierte, dass das Ministerium zum „Slalom-Fahren“ um Fußgänger herum auffordere. Und Käfer-Rohrbach machte klar: „Es sollte hier weder für Räder noch für E-Scooter Ausnahmen geben.“ Von Ordnungsämtern und Polizei forderte sie, die geltenden Regeln konsequent durchzusetzen.

Neben der Expertenrunde zu E-Scootern gab es auf dem Verkehrsgerichtstag sieben Arbeitsgruppen, die sich jeweils mit unterschiedlichen Facetten des Verkehrsrechts beschäftigten – vom Kraftfahrzeug-Schadensgutachten über das Hinterbliebenengeld bis hin zu Fußgängerschutz und Schienenersatzverkehr. Bemerkenswert waren dabei vor allem folgende Empfehlungen:
Experten warnen vor Mischkonsum: Eine Fachrunde auf dem Verkehrsgerichtstag widmete sich dem Umgang mit Cannabis im Straßenverkehr und rügte die jüngst angehobenen THC-Grenzwerte als Gefahr für die Verkehrssicherheit. Der Arbeitskreis von Prof. Thomas Daldrup empfahl daher, bei Mischkonsum von Cannabis und Alkohol auf eine Nulltoleranz-Regelung zu setzen. Konkret würde das bedeuten, dass nur bis zu 0,2 Promille Alkohol und bis zu 1 Nanogramm THC pro Milliliter Blutserum erlaubt wären, erklärte der Toxikologe aus Düsseldorf. Daldrup kritisierte auch, dass die Polizei in der Regel gar keine Ausstattung habe, um einen Anfangsverdacht von Cannabis-Missbrauch am Steuer festzustellen. „Hier müssen dringend Testmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden“, forderte er. Die Arbeitsgruppe bestärkte den Gesetzgeber außerdem darin, bei Gefahrguttransporten absolute THC-Nüchternheit vorzuschreiben.
Standard für Fahrtüchtigkeitstests: Ein weiteres Expertenforum nahm die polizeilichen Fahrtüchtigkeitstests in den Blick und sprach sich für eine einheitliche Vorgehensweise aus, um Verdachtsmomente bei Fahrunsicherheit besser beurteilen zu können. „In einigen Bundesländern gibt es bereits standardisierte Tests“, sagte Prof. Dieter Müller von der Hochschule der sächsischen Polizei und verwies unter anderem auf Niedersachsen. Das „Einbeinverfahren“ oder der „Geh-und-Dreh-Test“ wurde als gute Möglichkeit bezeichnet, um Ausfallerscheinungen zu erkennen. Die Arbeitsgruppe empfahl, diese Verfahren wissenschaftlich zu überprüfen und regelmäßig zu schulen, damit sie bundesweit auf gleich hohem Niveau angewendet werden. Zudem müssten Gerichte, Staatsanwaltschaften und Fahrerlaubnisbehörden in die Anwendung einbezogen werden. Eine Freiwilligkeit der Teilnahme ist laut Experten unerlässlich: „Der Fahrer muss belehrt werden, dass das komplette Verfahren freiwillig ist und aus der Nicht-Teilnahme keine negativen Schlüsse gezogen werden können.“ Kritisch wurde hingegen gesehen, den Führerschein ohne konkreten Straftatverdacht vorläufig sicherzustellen.
Dieser Artikel erschien am 03.02.2025 in der Ausgabe #021.
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