Drei Monate ist es her, da erregte eine Gruppe von Bundestagsabgeordneten der Ampel-Parteien mit einem merkwürdigen Vorschlag größere Aufmerksamkeit: Sie wollten das Wahlrecht in der Weise ändern, dass neben der Erst- und der Zweitstimme noch eine Drittstimme verbindlich sein soll. Das ganze diente einem Ziel, nämlich der Verkleinerung des Bundestages. Das Bundesparlament zählt derzeit 736 Volksvertreter, wesentlich mehr als die 598 Plätze, die es eigentlich bereithält.

Mit der „Drittstimme“ sollten die Wähler klären, welchem Vertreter einer anderen als der von ihnen bevorzugten Partei sie das Wahlkreismandat zukommen lassen wollen, wenn ihr eigentlicher Kandidat aus Gründen des Kräfteverhältnisses der Parteien nicht zum Zuge kommen sollte. Das klingt nicht nur kompliziert, es ist auch so. Im Mai, als dieser Vorschlag erstmals öffentlich wurde, zählte ein Niedersachsen zu den drei Autoren. Es ist der Göttinger FDP-Bundestagsabgeordnete Konstantin Kuhle, im Nebenamt derzeit Generalsekretär der niedersächsischen FDP.


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Inzwischen hat Kuhle Widerspruch erfahren. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Hendrik Hoppenstedt aus Burgwedel (Region Hannover), Vorsitzender des CDU-Bezirksverbandes und im Bundestag einer der Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, findet den Vorschlag der Ampel-Parteien „nicht hinnehmbar“ und hofft auf ein Gesprächsangebot von SPD, Grünen und FDP. Schließlich sollten Wahlrechtsfragen möglichst in einem großen Konsens geklärt werden. „Stattdessen höre ich immer wieder, die Union blockiere eine Einigung. In Wirklichkeit sind es Grüne und FDP gewesen, die seit Jahren eine Verständigung unmöglich gemacht haben“, betont Hoppenstedt.

Die Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit bei ihrer konstituiernden
Sitzung im Paul-Löbe-Haus in Berlin | Foto: Thomas Trutschel/photothek

Um das schwierige Thema zu verstehen, muss zunächst das geltende Prinzip erklärt werden: Maßgeblich für die Sitzverteilung im Bundestag ist das Resultat der Zweitstimmen. Sie zeigt das Kräfteverhältnis an, das später auch im Parlament abgebildet werden muss. Nun kann es aber sein, dass einer Partei 100 Sitze laut Zweitstimmenresultat zustehen, sie aber 105 Wahlkreise direkt gewonnen hat. Dann hätte sie nach geltendem Recht 105 Mandate, die überschüssigen fünf Mandate wären „Überhangmandate“, und die übrigen Parteien müssten Ausgleichsmandate dafür erreichen, dass am Ende das Kräfteverhältnis laut Zweitstimmenresultat wieder hergestellt wäre.

Dieses Prinzip führt normalerweise zu überschaubaren Ergebnissen, wenn die stärksten Parteien (bisher Union und SPD) jeweils um rund 40 Prozent liegen und die Zahl der eroberten Wahlkreise von der Zahl der Plätze laut Zweistimmenergebnis nicht wesentlich abweicht. Immer dann aber, wenn die starken Parteien bei jeweils um 30 Prozent liegen, siegen sie in wesentlich mehr Wahlkreisen als ihnen an Plätzen insgesamt zusteht. Das führt dann über den Mechanismus von Überhang- und Ausgleichsmandaten zu einer Aufblähung des Bundestags.

Hendrik Hoppenstedt erläutert seine Vorstellung im Gespräch mit Rundblick-Chefredakteur Klaus Wallbaum | Foto: Wallbaum

Der Vorschlag von Kuhle und den seinen Kollegen Sebastian Hartmann (SPD) und Till Steffen (Grüne) sieht nun vor, dass der Wähler noch eine dritte Stimme abgeben muss. Darin soll er ausdrücken, welches seine zweite Priorität für den Wahlkreiskandidaten wäre. Das ganze liefe dann so ab: Wenn eine Partei in einem Bundesland laut Zweitstimmen Anspruch auf 20 Mandate hätte, aber 22 Direktmandate direkt errungen hat, dann kommen die beiden zunächst siegreichen Wahlkreiskandidaten mit den relativ schlechtesten Ergebnissen nicht zum Zuge. Stattdessen würden in den beiden betreffenden Wahlkreisen diejenigen Bewerber das Wahlkreismandat erringen, die bei der Abgabe der dritten Stimme die besten Resultate errungen haben. Wenn aber auch diese nicht genommen werden können, weil auch ihre Partei damit mehr als die Zweitstimmen-Mandate erhielte, würde der nächstplatzierte bei der Rangfolge der dritten Stimmen zum Zuge kommen. Dieses Modell hat nun den Charme, dass Überhangmandate gar nicht mehr entstehen würden – und der Zwang zu Ausgleichsmandaten damit auch nicht mehr bestünde. Eine Aufblähung des Parlaments wäre also vermieden.

„Wie soll man dem Wähler erklären, dass ein siegreicher Wahlkreiskandidat nicht in den Bundestag einziehen darf, sondern gegenüber dem Zweit- oder Drittplatzierten zurückstecken muss?“

Hoppenstedt widerspricht allerdings: „Wie soll man dem Wähler erklären, dass ein siegreicher Wahlkreiskandidat nicht in den Bundestag einziehen darf, sondern gegenüber dem Zweit- oder Drittplatzierten zurückstecken muss, nur weil damit das übergeordnete Ziel der Bundestagsverkleinerung eingehalten werden soll?“ Der Ampel-Vorschlag sei „juristisch schwierig“ und könne, wenn SPD, Grüne und FDP ihn mit ihrer Bundestagsmehrheit durchsetzen würden, anschließend erfolgversprechend vor dem Bundesverfassungsgericht angegriffen werden. Die Unionsfraktion werde dann vermutlich in Karlsruhe klagen.

Dieses Modell jedenfalls könne keine Grundlage für Gespräche mit den Ampel-Parteien sein. Hoppenstedt sieht andere Varianten, unter anderem den im Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2012 aufgezeigten Weg: Man könne 15 Überhangmandate „unausgeglichen“ lassen – für jene würde es also keine Ausgleichsmandate geben, dieser Mechanismus würde erst mit dem 16. Überhangmandat beginnen. 2013 habe sich die CDU/CSU auf Wunsch von FDP und Grünen hier „breitschlagen“ lassen, diesen Weg nicht weiter zu verfolgen, sondern den Ausgleich jedes Überhangmandates vorzusehen.

„Wir könnten jetzt aber diese Variante neu diskutieren“, meint der CDU-Politiker. Die zweite Möglichkeit wäre aus seiner Sicht, den „Minimalkonsens von 2020 weiter auszubauen“. 2020 hatte die Große Koalition die Wahlkreisanzahl von 299 auf 280 gesenkt und festgelegt, dass insgesamt drei Überhangmandate nicht ausgeglichen werden sollen. Die letzte Festlegung indes wurde gar nicht umgesetzt. „Man könnte jetzt noch weiter gehen und etwa 270 Wahlkreise anpeilen“, meint Hoppenstedt.

Der CDU-Politiker sieht noch einen dritten Weg, wie jetzt auf der Grundlage neuer Vorschläge die Debatte mit den Ampel-Parteien Fahrt gewinnen könnte: Der Bundestag könnte auf maximal 600 Mandate gedeckelt werden, die eine Hälfte würde aus den Siegern der Direktmandate in den 280 Wahlkreisen bestehen, etwa 320 Mandate kämen dann über das Zweitstimmenresultat hinzu. Eine Verrechnung von Erst- und Zweitstimmen auf der Basis der Kräfteverteilung laut Zweitstimmenergebnis gäbe es dann nicht mehr, von der reinen Verhältniswahl wäre abgewichen. „Mir ist klar, dass das für die großen Parteien von Vorteil wäre und von Grünen und FDP vehement abgelehnt würde. Aber wir sollten mal darüber reden.“ Immerhin seien auch Länder wie Großbritannien oder Griechenland, in denen entweder das Mehrheitswahlrecht gilt oder in denen die stärkste Partei einen Sonderbonus von 50 Mandaten für die Erleichterung der Regierungsbildung erhält, „auch echte Demokratien“.