Soll ich eingreifen oder wegsehen? Diese Frage warf Rundblick-Redakteur Niklas Kleinwächter vor zwei Wochen an dieser Stelle auf. Er war Zeuge einer Straftat geworden und wurde Bedrohungen ausgesetzt. Nun sprach Kleinwächter mit Dietmar Schilff, dem niedersächsischen Landesvorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei (GdP), über gefährliche Situationen in der Großstadt, Polizeipräsenz und Ordnungsdienste sowie über die Frage, was Kommunalpolitik gegen Angsträume tun kann.

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Rundblick: Vor zwei Wochen haben wir im Rundblick eine besondere Situation beschrieben: Man beobachtet, wie in der direkten Umgebung eine Straftat begangen wird – und man ist plötzlich selbst der Gewissensfrage ausgesetzt: Soll ich eingreifen oder wegsehen? Was rät die Polizei an dieser Stelle?

Schilff: Die Position der Polizei und auch die der GdP ist ganz klar: Sofort die 110 wählen, wenn man etwas derartiges beobachtet. Auf jeden Fall sollte man nicht den Helden spielen und sich dadurch selbst in Gefahr bringen. Vor allem sollte man sich niemals allein in eine solche Situation begeben. Da spielt es auch keine Rolle, wenn diejenigen, die sich nicht an Recht und Gesetz halten, deutlich jünger sind – also ganz so, wie Sie es in dem Rundblick-Artikel geschildert haben. Ich hatte vor einiger Zeit auch so eine Situation: Neulich morgens beobachtete ich, wie eine Gruppe von Jugendlichen Brötchentüten einfach auf den Boden warf. Nachdem ich sie darauf angesprochen hatte, bauten die sich vor mir auf – da half dann nur noch mein Dienstausweis und die deutliche Ansage, dass ich nun die Polizei rufen müsse.

Hintergrund des Gesprächs:

Während unserer Sommerpause hatte Rundblick-Redakteur Niklas Kleinwächter eine unangenehme nächtliche Begegnung mit einer kleinen Gruppe von Jugendlichen. Erst randalierten sie, dann bedrohten sie ihn. Wie hätte man in einer solchen Situation reagieren sollen? Im Rundblick #147 (26.08.2021) berichtete unser Redakteur über seine Erlebnisse. Daraufhin gab es zahlreiche Reaktionen von Leserinnen und Lesern, die ihre Betroffenheit ausdrückt und bestätigten: Es gibt da ein Problem. Eine der ersten Reaktionen kam von der Gewerkschaft der Polizei – verbunden mit einem Gesprächsangebot.

Rundblick: So einen Dienstausweis hat aber nicht jeder. Und auch der Griff zum Smartphone kann ja schon als Provokation aufgefasst werden – zumindest ging es mir damals so.

Schilff: In der Tat, auch so etwas habe ich schon erlebt. Da war ich mit meiner Frau abends in Braunschweig in der Straßenbahn unterwegs und eine Gruppe alkoholisierter junger Leute kam herein. Die benahmen sich unmöglich, pöbelten rum und einer übergab sich sogar in der Bahn. In der Situation dachte ich auch bei mir: Du sagst jetzt besser nichts, sonst passiert was. Als ich dann nur mein Handy aus der Jacke geholt habe, eskalierte die Situation. Es gab eine körperliche Auseinandersetzung, bei der uns zum Glück andere Fahrgäste zu Hilfe kamen. An der nächsten Station stiegen die Jugendlichen aus und waren verschwunden. Die Zugführerin hat nichts bemerkt, sagte sie, und die Videoaufzeichnung war auch ausgeschaltet. So eine Situation vergisst man nicht. Als ich Ihren Artikel gelesen habe, musste ich sofort wieder daran denken.

Rundblick: Ist das nun die neue Normalität?

Schilff: Ob die Situation neu ist, kann man nicht genau sagen. Ich würde meinen, dass es vor zehn oder 20 Jahren gerade in Großstädten auch schon so zugegangen ist. Da müsste man schon weiter zurückschauen. Allerdings hat man inzwischen den Eindruck, dass mehr passiert und dass schneller das Messer gezückt wird. Das hat aber auch damit zu tun, dass in den Medien viel mehr darüber berichtet wird.

„Das subjektive Sicherheitsempfinden der Bevölkerung steht der objektiven Kriminalitätsstatistik oft diametral entgegen.“

Rundblick: Würden Sie also sagen, die Situation ist gar nicht so schlimm oder zumindest nicht schlimmer als früher?

Schilff: Was wir sagen können, ist, dass das subjektive Sicherheitsempfinden der Bevölkerung der objektiven Kriminalitätsstatistik oft diametral entgegensteht. Obwohl die Statistik weniger Fälle ausweist, wächst in der Bevölkerung das Unbehagen bis hin zur Angst. Aber am Ende ist es egal, ob es eine echte oder nur eine gefühlte Gefahrensituation gibt, wenn dadurch die Lebensqualität der Bevölkerung eingeschränkt wird.

Rundblick: Was kann dagegen getan werden?

Schilff: Als GdP haben wir gemeinsam mit dem Städte- und Gemeindebund ein Konzept erarbeitet, das wir auch allen Parteien zur Verfügung gestellt haben. Eine wesentliche Forderung daraus, die direkt auch das subjektive Sicherheitsempfinden betrifft: Wir brauchen mehr Präsenz auf der Straße. Dabei geht es zum einen um die Polizei, die unbedingt auch in Zukunft personell gut ausgestattet sein muss. Es wird gerade darüber diskutiert, dass in Zukunft kleine Polizeistationen geschlossen werden könnten, da die akute Gefahr besteht, dass Personal abgebaut werden soll. Der niedersächsische Finanzminister Hilbers ist hier leider der Treiber. Wir haben dazu politische Forderungen aufgestellt, dies nicht zu tun, und wir werden weiter gegen diese falsche Planung der Landesregierung vorgehen. Es ist aber auch wichtig, dass in der Fläche mal ein Streifenwagen lang fährt. Zum anderen geht es aber auch um kommunale Ordnungsdienste, die in Abstimmung mit der Polizei agieren. Die müssen natürlich entsprechend ausgestattet werden, auch mit einer richtigen Uniform, und müssen vorab eine Art von Ausbildung erhalten. Die Ordnungsdienste haben zwar nicht die gleichen Eingriffsrechte wie die Polizei, aber sie haben Jedermannsrechte. Das heißt, sie dürfen natürlich bei einer Straftat jemanden auch festhalten, bis die Polizei dann eingetroffen ist.

Rundblick: Wie ist Niedersachsen bei kommunalen Ordnungsdiensten derzeit aufgestellt?

Schilff: Soweit mir das bekannt ist, haben fast alle größeren Städte Ordnungsdienste eingeführt. Im Kommunalwahlkampf erkennt man, dass es nun darum geht, diese auszubauen: sowohl personell als auch zeitlich. Es hilft natürlich wenig, wenn ein Ordnungsdienst nur bis 22 Uhr im Einsatz ist, und dann danach etwas passiert. In anderen Städten wird das Modell des Nacht-Bürgermeisters ausprobiert. Da gibt es dann für bestimmte Stadtteile Ansprechpersonen, die dort auch nachts nach dem Rechten sehen und im Notfall ansprechbar sind.

„Dunkle Ecken schaden dem subjektiven Sicherheitsempfinden erheblich.“

Rundblick: Was kann die Kommunalpolitik sonst noch beitragen?

Schilff: Als GdP werben wir auch dafür, sogenannte Angsträume zu vermeiden. Dabei geht es zum Beispiel um Bushaltestellen, die teilweise in einem unmöglichen Zustand sind, oft unbeleuchtet. Da fühlt sich dann niemand wohl, wenn er oder sie auf den Bus wartet. Dazu gehören aber auch beispielsweise Hecken, die nicht mehr beschnitten werden, sodass man sich quasi durch einen Urwald schlagen muss, wenn man einen Weg entlang geht. Und ein ganz wichtiger Aspekt sind die Straßenlaternen. Es gab eine Zeitlang mal die Idee, man könne im kommunalen Haushalt Geld einsparen, indem man nachts nur noch jede zweite Straßenlaterne einschaltet. Dadurch entstehen aber dunkle Ecken, die dem Sicherheitsgefühl erheblich schaden.

Rundblick: Bei diesen Maßnahmen geht es nun vorrangig um das Empfinden der potenziellen Opfer. Sehen Sie auch notwenige Ansätze, um überhaupt die Verrohung aufseiten potenzieller Täter zu verhindern?

Schilff: Eine ganz wichtige Rolle spielen dabei das Ehrenamt und die Vereine, vor allem Sportvereine. Die können Leitplanken in der Entwicklung geben, die dann sogar Kinder aus Familien mit prekären Verhältnissen erreichen. Dort fehlt es aber auch vielfach am Geld. Wenn wir in diese Vereine aber mehr investieren, wäre das auch eine Investition in die innere Sicherheit. Darüber hinaus können die Fachleute in den Präventionsteams der Polizei kontaktiert werden, die gute Hinweise geben können und auch Veranstaltungen durchführen.