Man hätte gewarnt sein können: Schon bevor die Einrichtung einer Pflegekammer in Niedersachsen überhaupt beschlossen wurde, machten Gegner bereits landauf, landab gegen die Zwangs-Institution mobil, auch die Landtagsjuristen waren von dem Konstrukt nicht vollends überzeugt. Rot-Grün aber paukte das Projekt durch und steht nun vor einem politischen Scherbenhaufen. Fünf Erkenntnisse sollte man aus dem Pflegekammer-Desaster ziehen, meint Martin Brüning.

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1. Strukturen sind kein Allheilmittel

Dass es in der Pflege zahlreiche Probleme gibt, die von zu geringer Bezahlung bis hin zu inakzeptablen Arbeitsbedingungen reichen, ist unbestritten. Der Fehler lag allerdings darin, die Probleme durch Bürokratie beseitigen zu wollen. Die Grünen sind immer noch der Meinung, dass eine Pflichtkammer für Pflegebeschäftigte die Grundlage für Verbesserungen in der Pflege ist. Statt aber den Pflegekräften langfristig Monat für Monat ein paar Euro von ihrem kargen Gehalt für die Kammer abzuknöpfen, sollte diese Summe besser von allen Beitragszahlern in das Pflegesystem fließen. Das wäre zumindest schon einmal ein kleiner Beitrag, um den finanziellen Engpass im Pflegesystem ein wenig zu minimieren. „Der Apparat soll es richten“, lautete die Überschrift in einem Rundblick-Kommentar zur Pflegekammer im Oktober 2016. Fast vier Jahre später steht fest: Der Apparat richtet natürlich wie immer überhaupt nichts, ein unerwünschter Apparat sogar noch viel weniger.

2. Anfangsfehler können kaum wieder aufgeholt werden

Die Kammer stand von Beginn an unter keinem guten Stern. Schon die Einführung verlief nicht konfliktfrei, es folgte der Streit um die kurz vor Weihnachten verschickten Beitragsbescheide, in denen vielfach die Jahreshöchstsumme von 140 Euro gefordert wurde. Die Folge waren Proteste, auf die die Institution, die sich gerade im Aufbau befand, kaum angemessen reagieren konnte. Diskussionen um eine Lobby-Veranstaltung im Neuen Rathaus, eine unglücklich agierende erste Präsidentin, interne Querelen und ein Ministerium, das nicht ein einziges Mal eine richtige Hilfe war. Die Liste der Pannen wurde immer länger. Zwar konnte man am Ende den Eindruck gewinnen, dass die Kammer mit ihrer neuen Präsidentin Nadya Klarmann doch noch in die Spur kommen könnte, aber da war es bereits fast zu spät. Den Schaden haben die mehr als 30 Mitarbeiter, die die Verlierer dieses Polit-Desasters sind.

Noch eine Pannen-Pressekonferenz: Sozialministerin Carola Reimann mit der damaligen Präsidentin Sandra Mehmecke – Foto: MB.

3. Die Sozialministerin trägt die Verantwortung

Carola Reimann war keine Anhängerin der Kammer, das wollte sie am Montag sicherheitshalber noch einmal deutlich machen. Und sie stellte auch fest, dass man eine Interessenvertretung eben nicht „von oben“ politisch implementieren kann. Das ist alles richtig, spricht sie aber politisch nicht frei. Der Ministerin, die hervorragende fachliche Qualitäten hat und in der Corona-Krise durch ihr Studium der Biotechnologie und ihre naturwissenschaftlichen Kenntnisse ein Gewinn für das Land ist, fehlt es an politischen Management-Qualitäten. Viel zu lange hat sie sich von Interessengruppen für und gegen die Kammer treiben lassen, auch am Montag wirkte sie eher aufgeregt und nicht wie eine starke Ministerin, die einen Schussstrich unter das Kammertheater zieht. Die Taktik Stephan Weils, unschöne Themen besser von der Staatskanzlei fern zu halten, funktioniert nur, wenn starke Minister diese abfangen können. Das ist bei Reimann nicht der Fall.

4. Ein schnelles Ende ist nicht absehbar

SPD und CDU kann es gar nicht schnell genug gehen, die Pflegekammer nun politisch unter die Erde zu bringen. Doch das haben sie möglicherweise die Rechnung ohne den Wirt gemacht, denn die Kammer hat in der vergangenen Monaten neues Selbstbewusstsein getankt. Vorbei sind die Zeiten, in denen sich die Kammerversammlung intern selbst zerlegt hat. Deshalb ist damit zu rechnen, dass sich die Institution nicht kampflos ergeben wird. Auch dürften die Kammerbefürworter jetzt wieder ihre Stimme erheben. So ungewöhnlich schnell der Gesetzentwurf zur Auflösung der Kammer nun auf den Weg gebracht werden soll, so wenig darf gerade die SPD damit rechnen, dass sie das Thema schnell vom Tisch bekommt. Dennoch muss es ihr Schaden nicht sein, denn:

5. Die Pflegekammer wird kein Wahlkampfthema

Gerade die SPD muss nicht als Verlierer aus dem Kammerdesaster hervorgehen. Wer beim letzten Mal die Kammer nicht wollte, hat schon beim letzten Mal nicht SPD gewählt. Wer gegen die Kammer ist, wählt als Pflegekraft nicht automatisch CDU, FDP oder AfD. Und da wäre dann noch die Frage der Mobilisierung. Trotz des ganzen Streits um die Kammer hat nicht einmal ein Fünftel der Mitglieder, die mitwählen durften, an der Online-Umfrage teilgenommen. Das kann natürlich ein bewusstes Verhalten gewesen sein. Viel wahrscheinlicher ist aber: Die Kammerdebatte geht sogar an der breiten Mehrheit der Pflegekräfte vorbei. Wenn sich die breite Mehrheit der Pflegekräfte aber nicht einmal für den Streit um die Pflegekammer interessiert, hat es wohl auch keine Pflegekammer gebraucht.

Und was meinen Sie? 

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