Drei Dinge sind laut Philip Mertes bei der Unternehmensgründung wichtig: Ideen, Talente und Kapital. „Diesen Dreiklang müssen wir in Deutschland viel intensiver suchen als in den USA, Israel oder anderen Hotspots“, sagt der Geschäftsführer und Mitgründer von Evocal Health. Das 2020 gegründete Startup entwickelt eine Analysesoftware, um Krankheiten anhand von Geräuschen wie Stimme, Atem und Husten aufzuspüren. Mit seinem Unternehmen ist Mertes zwar nun in Hamburg ansässig, doch studiert hat er an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) in Südniedersachsen, weshalb er immer noch mit der Region eng verbunden ist.

Marco Janezic im Gespräch mit Stefan Muhle beim Startup-Day in der Life Science Factory Götingen. | Foto: Life Science Factory

Beim Start-up-Day in der Life-Science-Factory Göttingen analysierte Mertes deswegen auch den aktuellen Stand der Innovation in den sogenannten Bio- oder Lebenswissenschaften, die sich fachbereichsübergreifend von der Biotechnologie über Medizin und Pharma bis hin zur Psychologie eigentlich mit allen Fragen des Lebens beschäftigt. „Was uns in Deutschland primär fehlt, ist der Mut. Es scheitert häufig nicht an Ideen, sondern daran, dass man nicht versucht, Dinge zu wagen“, sagt Mertes. Was fehlt? „Der bedingungslose Wille, hier Innovation zu schaffen. Wenn man im internationalen Wettbewerb ist, kann man nicht nur halbe Sachen machen.“

Staatssekretär Muhle fordert Risikobereitschaft beim Staat

Genau diesen Standpunkt vertritt auch Stefan Muhle, Staatssekretär im niedersächsischen Wirtschaftsministerium. „Wir sind ein bisschen satt. Wir haben noch nicht verstanden, dass wir auch Risiken eingehen müssen, um große Chancen zu finanzieren“, sagte Muhle und ärgerte sich darüber, dass man sich durch Regularien und Bürokratie selbst im Weg steht: „Ich muss immer Vergaben machen und das Billigste nehmen. Mit dem Billigsten werden wir in Deutschland aber niemals Innovation auslösen.“ Hierzulande herrsche leider die Haltung vor, Fehler zu vermeiden, anstatt Dinge auszuprobieren.

Muhle würde sich wünschen, dass Politik und Verwaltung mehr an die Menschen und ihre Konzepte glauben. „Es reicht nicht, wenn wir einen Wirtschaftsminister haben, der sagt: In diese Richtung würden wir gehen. Man muss dafür auch ein geschlossenes Mindset in der Regierung haben“, sagte der Staatssekretär und kündigte an, in den nächsten Monaten für diese Haltung werben zu wollen.

Marco Janezic (von links) mit Stefan Muhle, Philipp Schulte-Noelle, Merle Fuchs und Joachim Kreuzburg im Studio. Online zugeschaltet sind Thomas Thum und Claudia Ulbrich. | Foto: Screenshot

Was in Niedersachsen richtig schief läuft, machte Merle Fuchs von der Pramomolecular GmbH aus Gera deutlich. Das Pharmazie-Startup, das mithilfe von Ribonukleinsäuren (RNA) krankmachende Proteine in Lungen- und Pankreaszellen „stummschalten“ will, wollte sich eigentlich in der Life-Science-Factory in Göttingen ansiedeln. „Wir können uns Göttingen nicht leisten, weil wir hier in Niedersachsen keine Frühphasenfinanzierung bekommen“, sagte Fuchs. Dabei brachte das vom Pharma- und Laborzulieferer Sartorius gegründete Zentrum die Molekularbiologin geradezu ins Schwärmen. „Das Umfeld, die Bedingungen und die Ausstattung sind fantastisch“, sagte Fuchs. Die Förderung sei in Thüringen aber wesentlich besser.

„Was uns massiv fehlt, ist relativ wenig Geld“, schilderte die Jungunternehmerin. Ihr Startup habe 1,7 Millionen Euro eingeworben, um zu beweisen, dass der Ansatz funktioniert. Viel Geld sei das nicht für diese riskante Phase, weshalb sie nun eigentlich „dringend die Hilfe der öffentlichen Hand braucht“. Zum Vergleich: Ein Mitbewerber in den USA, der ein ähnliches Konzept verfolgt und nur ein oder zwei Jahre weiter sei, habe 116 Millionen Euro einsammeln können, erzählte Fuchs und meinte: „Wenn wir es nicht schaffen, können die unser Knowhow aus der Portokasse heraus kaufen.“

Forschung in Niedersachsen – Börsengang in USA

„Das Geld ist total wichtig. Das bekommt man aber auch nur, wenn man eine wirklich interessante Technologie und einen ordentlichen Geschäftsplan hat“, bestätigte Claudia Ulbrich, CEO von Cardior-Pharmaceuticals. Das 2016 gegründete Spin-off der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) setzt auf RNA-basierte Therapien für Patienten mit Herzerkrankungen. „Wir hatten am Anfang auch zähe Verhandlungen über Lizenzen und Patente“, berichtete Ulbrich. In der jüngsten Finanzierungsrunde hatte das Unternehmen allerdings 64 Millionen Euro eingeworben. „In Europa sind wir im Wagniskapital gar nicht so schlecht ausgestattet. Wir haben keinen US-amerikanischen Fonds in unserer Finanzierungsrunde.“

Den Börsengang plant das Unternehmen aus Hannover aber in den USA. „Die europäischen Börsengänge im Life-Science-Bereich sind praktisch vom Tisch“, sagte Ulbrich und kritisierte: „Die steuerlichen Bedingungen für Investments in diese Fonds stimmen in Deutschland einfach nicht.“ Das sei auch deswegen ärgerlich, weil die Wertschöpfung durch diese Innovationen am Ende dort landen, wo das Geld herkommt. Zudem bemängelte auch Ulbrich die Unterstützung für Startups in Niedersachsen. Cardior investiere 1,5 Millionen Euro in einen neuen Standort im Wissenschaftspark Marienwerder in der Landeshauptstadt – ohne jede Förderung.

„Die Lebenswissenschaften werden einer der entscheidenden Treiber des wirtschaftlichen Wohlstands in Deutschland und Niedersachsen sein. Davon bin ich überzeugt“, sagt Wirtschaftsminister Bernd Althusmann. | Foto: Screenshot

„Biontech ist auch nicht in Frankfurt an die Börse gegangen, sondern am Nasdaq“, merkte Ottobock-CEO Philipp Schulte-Noelle an und sagte: „In den USA gilt die Devise: ‚Think big‘. Und da sitzt das Geld einfach locker. So was haben wir gar nicht. Da muss sich steuerlich was ändern, damit man auch sieht, dass einem das was bringt, wenn man so ein Risiko eingeht.“ Der Geschäftsführer des Duderstädter Traditionsunternehmens, das sich auf Prothesen, Orthesen und Neurostimulation spezialisiert hat, sieht Deutschland bei den Lebenswissenschaften grundsätzlich gut aufgestellt.

„Wir sind ein reiches Land mit einem wahnsinnigen Forschungsschatz.“ Einem jungen Unternehmensgründer würden aber zu viele Hürden in den Weg gelegt. Mit der Life-Science-Factory, in der es unter anderem auch gut ausgestattete Labore gibt, habe man einige davon beiseitegeschafft. „Es liegt nur an uns, durch Wachstumsfonds, mit dem Commitment der Industrie und zusammen mit den Forschungsinstituten alles zu bündeln und einen gangbaren Weg für junge Menschen zu zeigen“, sagte Schulte-Noelle und betonte: „Göttingen und Hannover sind als Nucleus für Life Science entsprechend ausgestattet. Da können wir jetzt den Unterschied machen.“

„Bündelung macht Göttingen für Geldgeber sichtbar“

„Wir sind im Moment bei den Lebenswissenschaften in einer unglaublich dynamischen Phase“, bestätigte Joachim Kreuzburg, Vorstandsvorsitzender des DAX-Konzerns Sartorius. Niedersachsen müsse jetzt seine nicht überdurchschnittlichen Mittel bündeln und auf wenige Standorte konzentrieren, die im internationalen Wettbewerb bestehen können. „Durch so eine Bündelung, wie wir es hier in Göttingen versuchen, wird man auch für internationale Geldgeber sichtbar. Die bummeln nicht nach Cuxhaven, Papenburg und über die Dörfer, aber die kommen hoffentlich hier nach Göttingen. Da haben sie nämlich innerhalb kurzer Zeit zehn Meetings mit aussichtsreichen Startups“, sagte Kreuzburg. Zudem habe die Metropolregion Hannover-Braunschweig-Göttingen-Wolfsburg ein gutes Netzwerk, Forscher mit viel Potenzial und „eine außerordentlich starke Universitätsmedizin“.

MHH-Professor Thomas Thum bewertete die Herz-Lungen-Forschung und die RNA-Forschung in Niedersachsen als „hervorragend“. Er wünscht sich aber eine noch bessere Vernetzung der Metropolregion. Der neue Leiter des Fraunhofer-Instituts für Toxikologie und Experimentelle Medizin in Hannover hat festgestellt: „Egal wo sie sind: Es gibt immer unterschiedliche Voraussetzungen und Vorstellungen, wenn jemand aus der Universität ausgründen will.“ An englischen Hochschulen könne sich jeder Doktorand die Anforderungen an eine Ausgründung auf der Uni-Webseite herunterladen. „Hier werden die Bedingungen dafür jedes Mal neu diskutiert“, bemängelte Thum und forderte allgemeingültigere Vorgaben für Lizenzen und Meilensteine. „Orientierungswerte wären extrem hilfreich“, sagte Thum. Zudem forderte er mehr Produktionskapazitäten für die Unternehmen aus dem Life-Science-Bereich. Staatssekretär Muhle versprach, dass ein „Life-Science-Board“ die Verbesserungsvorschläge aus Industrie und Forschung aufnehmen und abarbeiten wird.