Das Bild dieses Wahlkampfs ist vielfältig: In manchen Orten hängen an fast jedem Laternenpfahl Plakate mit lächelnden Kandidaten man verliert den Überblick. In anderen hingegen ist keine einzige Wahlwerbung zu finden. Wichtig ist am Ende die Situation im Wahllokal: Finden die Wahlberechtigten noch genügend Auswahl unter verschiedenen Bewerbern, so ist damit der Anspruch an die Demokratie, für wichtige Positionen unter Alternativen entscheiden zu können, erfüllt. Aber ist dies gegenwärtig der Fall? Die Rundblick-Redaktion streitet darüber in einem Pro und Contra.

Ist die Kommunalwahl eine Wahl ohne Auswahl: Der Chef-Redakteur Neue Medien Christian Wilhelm Link und Chef-Redakteur Klaus Wallbaum streiten über die Aufstellung der Parteien zur Kommunalwahl am Sonntag. / Foto: Tomas Lada

Pro

Nun sind sie doch wieder voll geworden, die Listen der Kandidaten für die Ortsräte, Stadträte und Kreistage. Im Wahlkampf bekommt man zuweilen den Eindruck, dass sogar mehr Gruppierungen als sonst antreten und ein Mandat erringen wollen. Diese Vielfalt ist aber nicht nur von Vorteil, meint Klaus Wallbaum.

Doch, das System funktioniert im Großen und Ganzen noch ganz gut. Vor der niedersächsischen Kommunalwahl am Sonntag bekommt man nicht das Gefühl, dass das Interesse an der Mitarbeit an kommunalen und öffentlichen Aufgaben total erlahmt wäre. Die vergangenen Wochen waren von Wahlkampf geprägt, und vielerorts spürt man das rege Treiben der Kandidaten und ihrer Helfer. „Politik liegt in der Luft“, könnte man sagen. Das ist ein gutes Zeichen.

Chef-Redakteur Klaus Wallbaum, Foto: Tomas Lada

Ob es gar nicht an der Kommunalwahl liegt, sondern daran, dass gleichzeitig eine spannende, wahrlich historische Bundestagswahl bevorsteht? Das könnte sein, ist aber sekundär. Wichtig ist vor allem eine Erkenntnis: Trotz Kontaktbeschränkungen und Versammlungsverboten ist das öffentliche Leben in Niedersachsen nicht eingegangen wie eine Pflanze ohne ausreichend Wasser – der politische Wettbewerb gedeiht vielmehr nach wie vor.

Dass es für einige wichtige Positionen, etwa die von Landräten, allein in sieben Kreisen nur einen einzigen Kandidaten gibt, kann man als Mangel beschreiben. Auf der anderen Seite: Wenn diese einzigen Bewerber schlecht wären, könnten die Wähler sie am Sonntag auch abstrafen. Außerdem ist dieses Bild nicht durchgängig, in etlichen Kommunen ist die Bewerberzahl für den Verwaltungschef sogar unübersichtlich hoch – etwa in Delmenhorst, wo elf Personen Oberbürgermeister werden wollen. Da kann am Ende ein hauchdünner Vorsprung entscheiden, welche beiden die meisten Stimmen erhalten und dann in der Stichwahl landen. Mangel hier, Überfluss dort – gleicht sich das am Ende dann zum Wohle aller aus?

„Mangel hier, Überfluss dort – gleicht sich das am Ende dann zum Wohle aller aus?“

Klaus Wallbaum, Chef-Redakteur

Das wäre zu einfach. Über die Qualität der Spitzenkandidaten für Bürgermeister- und Landratsämter lässt sich in den Einzelfällen streiten, jedenfalls haben sich meistens noch genügend Interessenten gefunden, die auf den ersten Blick als vorzeigbar und qualifiziert gelten. Wenn man tiefer schaut, fällt der Blick auf die vielen Ehrenamtlichen, die für die Kreistage, Gemeinde- und Ortsräte antreten. Bilden sie die Breite der Gesellschaft ihrer jeweiligen Kommune ab? Sind alle Gruppen ausreichend vertreten – gemessen am Alter der Bewerber, an ihren Berufen, an ihrem sozialen Status und an ihren Wohnorten? Kandidieren genug Frauen? Gibt es genügend Erneuerung? Oftmals ist der Befund enttäuschend: Es treten dann nur die an, die seit vielen Jahren dabei sind, neue Gesichter sucht man vergeblich, Frauen bleiben unterrepräsentiert. Gerade auf dem Lande schmoren die Ortsvereine von SPD, CDU, Grünen, FDP und Wählergemeinschaften oft im eigenen Saft.

Tragisch ist es, wenn sich neue Impulse nicht mehr in den etablierten Parteien formieren, sondern in neuen Gruppen, die dann oft nicht die organisatorische Stärke für eine dauerhafte Mitwirkung in der Kommunalpolitik haben. Manchmal sind es „Ein-Thema-Gruppen“, die sich nur zu einem einzigen Thema (beispielsweise dem Kampf für eine Umgehungsstraße) gebildet haben und deren Kreativität sich auch in diesem Thema erschöpft. Die integrative und inspirierende Kraft der lokal verwurzelten Ortsverbände von SPD, CDU, FDP, Grünen oder Wählergemeinschaften, die idealerweise junge Leute an die Politik heranführen und dafür begeistern, ist vielerorts nicht mehr vorhanden – dort scheint das eine Vision von gestern zu sein. An den Kandidatenlisten in vielen Orten kann man das leider ablesen.

Was ist zu tun? Die Rezepte klingen nicht neu, sind trotzdem richtig: Die Parteien müssen lebendiger werden, sich besser für neue Leute öffnen, mehr Frauen eine Chance geben – und eine Vielfalt an gesellschaftlichen Gruppen anstreben. Sie müssen auch lokal die Orte einer munteren Diskussion werden und aufhören, alte Erbhöfe – sowohl personell wie inhaltlich – zu pflegen.

Contra

Bei Ortsräten, Gemeindevertretungen oder Stadträten haben die Niedersachsen bei der Kommunalwahl am Sonntag die Qual der Wahl. Doch bei vielen Direktwahlen wird das Kreuzchenmachen mangels Kandidatenvielfalt zur Formsache. Hier kommen die Parteien ihrer Aufgabe nicht nach, meint Christian Wilhelm Link.

Als Bewohner einer der niedersächsischen Landkreise, in denen am Sonntag nur ein Landratskandidat zur Wahl steht, finde ich das System derzeit richtig bescheuert. Auf Ortsratsebene habe ich so viele Kandidaten zur Auswahl, dass es dort selbst innerhalb der einzelnen Parteien einen knallharten Verdrängungswettbewerb gibt. Doch bei der Wahl des höchsten politischen Amtes innerhalb meines Landkreises habe ich genauso viele Optionen wie bei der Auswahl meines DSL-Anbieter: nämlich eine.

Chef-Redakteur Neue Medien Christian Wilhelm Link, Foto: Tomas Lada

Es ist ja schön, dass sich so viele Menschen für die politische Arbeit direkt vor Ort begeistern können. Aber machen wir uns nichts vor: Die Entscheidungsmöglichkeiten eines Ortsrats sind doch eher begrenzt. Ein Wettbewerb der politischen Ideen ist zwar auch auf Stadtteilebene nice-to-have. Aber in über 15 Jahren kommunalpolitischer Berichterstattung habe ich die Erfahrung gemacht, dass Orts- oder Stadtratsmitglieder aufgrund realpolitischer Zwänge eher geringe Gestaltungsmöglichkeiten haben. Parteiintern mag es einen Unterschied machen, wer hier einen Sitz bekommt. Nach außen hin ist es eher weniger von Bedeutung. Entscheidend ist hier, dass die vom Wähler zugewiesenen Sitze auch mit genügend Personen aufgefüllt werden können. Letztlich werden die meisten Entscheidungen ja doch vom ganzen Gremium einstimmig getroffen.

Bei der Wahl eines Hauptverwaltungsbeamten sieht das ganz anders aus. Die Corona-Pandemie hat zuletzt sehr deutlich gemacht, welchen erheblichen Ermessensspielraum ein Landrat hat. Per Allgemeinverfügung kann er zum Beispiel eine nächtliche Ausgangssperre verordnen und damit Grundrechte außer Kraft setzen – oder eben nicht. Und das ist nur eine von vielen Kursentscheidungen, zu denen ein Hauptverwaltungsbeamter berechtigt und per Amt auch explizit aufgefordert ist. Gerade bei der Krankenhausversorgung oder beim öffentlichen Nahverkehr hat ein Landrat eine große Machtfülle.

„Direktwahlen mit nur einem Kandidaten gehen gar nicht.“

Christian Wilhelm Link, Chef-Redakteur Neue Medien

Doch obwohl diese Themen die Bevölkerung brennend interessieren, machen die Parteien hier keine Angebote. Stattdessen versteckt man sich lieber hinter dem Motto: „Es ist besser, nicht zu verwalten, als schlecht zu verwalten.“

Als politischer Beobachter finde ich das peinlich. Da hilft es auch nicht, dass es in den Gemeindevertretungen oder in Gemeinden erfreulich viele Kandidaten zur Auswahl gibt. Direktwahlen mit nur einem Kandidaten gehen gar nicht. „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“, heißt es in Artikel 21 des Grundgesetzes. Dazu gehört auch die Aufgabe, bei Wahlen ein vielfältiges Angebot bereitzustellen.