Spitzenkandidatin Filiz Polat. | Foto: Wallbaum

Als Filiz Polat, die alte und auch neue Spitzenkandidatin der niedersächsischen Grünen zur Bundestagswahl, vor die mehr als 220 Delegierten tritt, ist der weitere Verlauf eigentlich klar: Diese Aufstellungsversammlung, Dank kräftigen Mitgliederzuwachses so reich an Teilnehmern wie nie zuvor, will an diesem Tag nicht streiten. Gefragt ist die große Harmonie, die Einordnung in die dominierende – und das heißt hier: linke – Richtung. Kräftiger Applaus ertönt während Polats Rede und auch danach. Fast wie auf Knopfdruck erheben sich die Delegierten von ihren Plätzen und klatschen – wie auch für die folgenden Bewerbungen. Nach der Bekanntgabe der Ergebnisse herzen sich Funktionsträger und Kandidaten, viele Anwesende zücken ihre Handys und halten die Augenblicke für die Ewigkeit fest. Die Stimmung ist gelöst, entspannt, familiär – und die linken Flügelleute feiern.

In diesen Momenten erscheint der Streit ausgeblendet, der in den vergangenen Wochen die niedersächsischen Grünen überschattet hatte und künftig noch wieder hochkochen dürfte. Der „Realo-Flügel“, für den Robert Habeck mit seiner prinzipiellen Offenheit für Schwarz-Grün steht, hat in Niedersachsen immer schon einen schweren Stand gehabt. In Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen oder Hessen sind diese Realos stark, teilweise sogar bestimmend. In Niedersachsen ist das mittlerweile ganz anders. Immerhin noch 2021 konnten mit Stefan Wenzel, Frank Bsirske und Ottmar von Holtz drei Vertreter dieser Richtung in den Bundestag gelangen. Nun aber treten Wenzel und Bsirske nicht mehr an, und da die Erfolgschancen der Grünen in den aktuellen Umfragen schlechter sind als 2021, gelten gemeinhin nur die ersten zehn Plätze der Landesliste als „wahrscheinlich sicher“. In den Vorbereitungen lief es nicht gut für den „Realo-Flügel“, drei Bewerber scheiterten in den Empfehlungsrunden der teilweise erst neu gegründeten „Regionalkonferenzen“. Vor allem die Hoffnung der Realos, die versierte frühere Europaabgeordnete und Ukraine-Kennerin Viola von Cramon (Göttingen) auf einen vorderen Rang zu hieven, wurde in einer dieser „Regionalkonferenzen“, der für Süd-Niedersachsen, zunichte gemacht.

OB Belit Onay (links) und Timon Dzienus. | Foto: Wallbaum

Aber sind diese „Regionalkonferenzen“ überhaupt ein legitimes Instrument der Meinungsbildung bei den Grünen? In den Gremien hat jeder Kreisverband zwei Stimmen – unabhängig von der Mitgliederzahl. So ist Holzminden mit weniger als 100 Mitgliedern gleichstark vertreten wie Göttingen mit mehr als 1000, und das ist demokratietheoretisch fragwürdig. Viola von Cramon fiel in der „Regionalkonferenz“ Süd-Niedersachsen zweimal durch – erst gegen Karoline Otte, die noch in der Aufstellung der Wahlkreiskandidatur ihr gegenüber unterlegen war, dann gegen Marie Jalyschko aus Braunschweig. Im Ärger darüber hatte sich vor wenigen Wochen Stefan Wenzel öffentlich zu Wort gemeldet und darauf hingewiesen, dass in der Grünen-Satzung diese seltsamen und aus seiner Sicht wenig repräsentativen „Regionalkonferenzen“ gar keinen Status haben – dass sie damit also kein Recht der Vorauswahl haben dürften. Die Grünen, meinte er, seien doch immer für Basisdemokratie eingetreten. Womöglich war Wenzels Zwischenruf auch als Ermutigung für von Cramon gedacht, sich trotz der linken Übermacht im Landesverband tapfer zur Wahl für einen vorderen Listenplatz zu stellen. Die Gegenseite, also die führenden Leute der Linken im Landesverband, blieben in der Debatte aber auch nicht untätig. Hingewiesen wurde darauf, dass von Cramon öfter auch bei Grün-internen Debatten zu hart und wenig geschmeidig aufgetreten sei. Außerdem hätten sich die Realos, heißt es aus Reihen der Linken, taktisch „verzockt“, da sie sich auf zwei Bewerber aus Süd-Niedersachsen konzentriert hätten, die beide dort einer großen linken Konkurrenz gegenübergestanden hätten.

Am Ende wagt Viola von Cramon in der Aufstellungsversammlung dann den Einstieg erst auf Position neun. Sie hält eine starke Rede, die sich vor allem um die Außen- und Ostpolitik dreht und in der sie betont: „Der Kriegstreiber sitzt im Kreml, und wer das nicht klar benennt, darf keinen Einfluss auf die Politik in Deutschland bekommen.“ Auch nach dieser Rede stehen Delegierte auf und klatschen – aber es ist nur die klare Minderheit. Christina-Johanne Schröder aus der Wesermarsch, die für Platz sieben unterlegen war, tritt ebenfalls auf Platz neun wieder an – und sie gewinnt mit 147 Stimmen gegen von Cramon, die nur 67 Stimmen erhält, also nicht einmal ein Drittel. Sie versucht es dann noch einmal für Position 11 und misst sich dort mit der Braunschweigerin Lisa-Marie Jalyschko. Von Cramon erhält hier knapp 40 Prozent – und verliert erneut.

Viola von Cramon | Foto: Wallbaum

Es bleibt bei dieser Aufstellungsversammlung nicht bei dieser einen Enttäuschung für das Realo-Lager. Die Niederlage für Viola von Cramon ist das sichtbarste Zeichen der linken Prägung des Landesverbandes. Aber im Vorfeld hatte man noch über andere Vertreter dieser Richtung gesprochen. Der Soldat Daniel Beer aus Celle beispielsweise wäre ein Newcomer gewesen – doch in der „Regionalkonferenz“ Elbe-Weser hatte er als Realo keine Empfehlung bekommen. Andere führende Grünen-Vertreter in Niedersachsen hatten überlegt, dass der Bundestagsabgeordnete Ottmar von Holtz aus Hildesheim abgesichert werden könnte – denn auch er ist ein Realo, genießt aber für sein Engagement für die Entwicklungshilfe und wegen seines vermittelnden Auftretens viele Sympathien im linken Lager. Auf Position acht der Liste tritt von Holtz an, aber er wird herausgefordert vom Grünen-Landesvorsitzenden Alaa Alhamwi aus Oldenburg. Alhamwi war 2011 aus Syrien geflohen, und in seiner sehr emotionalen und eindrucksvollen Bewerbungsrede schildert er, wie er einst von Assads Schergen verprügelt worden war – und wie froh er ist, dass vor wenigen Tagen dieses Regime gestürzt wurde. Mit 56,4 Prozent setzt sich Alhamwi durch, von Holtz muss mit 42,3 Prozent eine Niederlage einstecken. Auf Rang zehn tritt von Holtz noch mal an, verliert aber gegen Julian Pahlke aus Papenburg. Für Rang 12 tritt er erneut an – und erringt, endlich, eine Mehrheit. Der erste Realo also ist auf Position 12, nach aktuellen Umfragen dürfte das für ihn nicht reichen.

Gastrednerin Annalena Baerbock. | Foto: Wallbaum

Das Scheitern der Realo-Kandidaten ist aber nur ein Indiz für die beständige Fortsetzung der Links-Verschiebung der niedersächsischen Grünen. Das andere ist die Kür des hoch umstrittenen, für seine linksextremen Meinungsäußerungen in sozialen Netzwerken bekannten Timon Dzienus aus Hannover. Der frühere Bundesvorsitzende der Grünen Jugend tritt auf dem sicheren Listenplatz sechs ohne Gegenkandidaten an – und wird prompt mit 168 gegen 52 Stimmen gewählt. Dabei hat es auch von engagierten Grünen selbst im Vorfeld jede Menge Hinweise gegeben, dass die Nominierung von Dzienus wie Sprengstoff für mögliche spätere schwarz-grüne Koalitionsgespräche im Bund wirken könnte. Position zehn erringt Julian Pahlke aus Papenburg, der jetzt schon im Bundestag sitzt und einer der rhetorisch radikalsten Bundestagsabgeordneten der Grünen ist. Pahlke spitzt seine Bewerbungsrede ganz auf den CDU-Kanzlerkandidaten zu: „Die Antwort auf Friedrich Merz sind christliche Werte“, ruft er – und poltert, von kräftigem Applaus unterstützt, gleich mehrfach gegen Merz. Pahlke dürfte, wie Dzienus, zur Speerspitze der Schwarz-Grün-Gegner in der künftigen Bundestagsfraktion zählen.

Als Fazit bleibt, dass der dominante linke Flügel der Grünen bei dieser niedersächsischen Aufstellungsversammlung ein Jubelfest veranstalten kann. Durchweg haben sich ihre Kandidaten durchgesetzt für die ersten elf Plätze. Der Plan aber, eine flügeltechnisch ausgewogene Liste anzubieten, geht schief – wenn es ihn denn überhaupt ernsthaft gegeben haben sollte.