Ist es richtig, das Verhältniswahlrecht bei der Bundestagswahl zu stärken?
Das Bundesverfassungsgericht hat am Dienstag wesentliche Elemente der von SPD, Grünen und FDP im Bundestag beschlossenen Wahlrechtsreform bestätigt. Damit ist nun das Verhältniswahlrecht gestärkt – allein bestimmend für die Zusammensetzung des Bundestags ist die Frage, wie die Kräfteverhältnisse der Fraktionen nach den Zweitstimmen sind. Ist das eine kluge Entscheidung? Die Rundblick-Redaktion streitet darüber in einem Pro und Contra.

PRO: Ein noch stärkeres Verhältniswahlrecht kann sinnvoll sein. Denn das Direktmandat wird überbewertet und ist auch hinderlich bei einer klugen Aufstellung von modernen Fraktionen, meint Niklas Kleinwächter.
Sinnvoll ist, was ein Aufblähen des Bundestags verhindert. Darin sind sich wohl alle einig. Verringert man das Gewicht der personalen Komponente im deutschen personalisierten Verhältniswahlrecht, wird dieses Ziel in jedem Fall erreicht. Lässt man allerdings weiterhin Direktkandidaten in Einerwahlkreisen antreten, von denen womöglich am Ende aber gar keiner in den Bundestag kommt, ergibt das ein schräges Bild. Wie wäre es denn, wenn man die Wahlkreise gleich ganz hinter sich ließe, dafür aber die Listen stärkt? Ein paar Gedanken dazu, warum die Verhältniswahl noch mehr kann:
Überbewertung des Direktmandats: Kennen Sie eigentlich den direkt gewählten Abgeordneten Ihres Wahlkreises? Wissen Sie also, wer genau Ihre Interessen und die Interessen Ihrer Nachbarn in Berlin vertritt? Sie persönlich kennen die Namen vermutlich schon, schließlich lesen Sie das Politikjournal Rundblick und gehören damit zu jenem Teil der Bevölkerung, der bei den politischen Prozessen auf der Höhe der Zeit ist. Aber für die allermeisten Bürger in diesem Land spielt es keine allzu große Rolle, welches der Gesichter von den Wahlplakaten nun tatsächlich ins Parlament gekommen ist. Oder sagen wir lieber: Welcher der Kandidaten direkt eingezogen ist. Mich vertritt in Berlin beispielsweise Adis Ahmetović (SPD) – selbst dann, wenn ich ihn nicht gewählt haben sollte. Aus demselben Wahlkreis gehören aber auch noch Jörn König (AfD) und Swantje Michaelsen (Grüne) dem Bundestag an. Direkt gewählt sind die beiden nicht, bei politischen Versammlungen im Wahlkreis trifft man sie derweil schon.
Abwegiger wird die Betonung des Direktmandats ein paar Kilometer weiter. Im zweiten stadthannöverschen Wahlkreis hat Yasmin Fahimi (SPD) den Wahlkreis direkt gewonnen. Nun arbeitet sie aber an der Spitze des DGB und der Wahlkreis ist verwaist. Die Hälfte der Hannoveraner, die dort lebt, stürzt das allerdings nicht in die Krise. Schließlich fühlt sich Ahmetović sicher auch für diesen Teil der Stadt verantwortlich – und dann sind da ja auch noch Sven-Christian Kindler (Grüne) und Knut Gerschau (FDP), die um das Direktmandat gebuhlt haben aber „nur“ über die Liste eingezogen sind.
Und was ist eigentlich mit all den Wählern der CDU in Hannover? Dass sie keinen Direktkandidaten nach Berlin schicken und noch nicht mal einen „ihrer“ Listenbewerber durchbekommen haben, sollte in einem Parlament, das für alle Menschen in Deutschland entscheidet, eigentlich zu keinen Verwerfungen führen. Andersherum stellt sich das Problem etwa im Wahlkreis 17 dar. Mit 6250,3 Quadratkilometern ist der Bundestagswahlkreis „Mecklenburgische Seenplatte II – Landkreis Rostock III“ der flächenmäßig größte, wenngleich natürlich dünn besiedelt. Will man Johannes Arlt (SPD) tatsächlich mit dem gesamten Territorium alleinlassen?
Anschub für die Vielfalt: Stärkt man das Verhältniswahlrecht und minimiert die personale Komponente, führt das auch zu einer Stärkung der Parteien auf Landesebene und eröffnet damit Möglichkeiten zur besseren Planung moderner Fraktionen. Aktuell ist das schwieriger: Was beispielsweise eine paritätisch nach Geschlechtern besetzte Liste bringt, wenn diese Liste dann gar nicht zum Zuge kommt, hat man bei der jüngsten Landtagswahl bei der SPD beobachten können. Solange es kein Paritätsgesetz gibt, das in jedem Wahlkreis einen männlichen und einen weiblichen Bewerber vorschreibt, ist mit frei bestückten Direktwahlkreisen wenig für die Parität zu gewinnen.
Männer und Frauen in der Familienphase oder Handwerker und Kleinunternehmer mit laufendem Betrieb haben es häufig schwerer, sich in Direktwahlkreisen zu behaupten.
Aber es muss ja gar nicht (nur) um die Geschlechtervielfalt gehen. Vielfalt an sich kann eine Bereicherung für die Fraktionen und letztlich für den Bundestag sein. Moderne Fraktionen gewinnen, wenn sie in sich viele verschiedene Kompetenzen bündeln. Wenn man will, dass dort weniger Alte, weniger Männer, weniger Juristen oder meinetwegen auch weniger (oder mehr?) Christen sitzen, kann das doch besser über eine plural besetzte Landesliste hergestellt werden, als über 299 Einerwahlkreise, in denen sich die immergleichen Politkarrieristen durchsetzen. Um diese Aufzählung weniger woke und weniger negativ klingen zu lassen, möchte ich es noch einmal anders formulieren: Männer und Frauen in der Familienphase oder Handwerker und Kleinunternehmer mit laufendem Betrieb haben es häufig schwerer, sich in Direktwahlkreisen zu behaupten. Kluge Köpfe in den Parteizentralen und bei den Versammlungen zur Listenaufstellung könnten sich hier für eine gewisse Vielfalt einsetzen. Zu dieser Vielfalt gehört dann natürlich auch der regionale Proporz. Wenn deutsche Parteien immer schon eines gut hinbekommen haben, dann diesen zu berücksichtigen.
CONTRA: Die Aufsplitterung des parteipolitischen Spektrums in immer mehr Gruppen, die sich oft nur auf wenige Spezialinteressen konzentrieren und kaum kooperationswillig sind, schadet der Demokratie. Eine zukunftsweisende Wahlrechtsreform sollte daher die Mehrheitsbildung erleichtern, indem die großen Parteien gestärkt werden, meint Klaus Wallbaum.
All jenen, die nun jubeln über den Erfolg der Ampel-Koalition vor dem Bundesverfassungsgericht, sei entgegnet: Freut Euch nicht zu früh, denn es könnte sein, dass ihr nicht das getan habt, was eigentlich nötig wäre. Das Ziel dieser Reform war, ein Ausufern des Bundestags zu verhindern. Denn bisher war es so: Damit die Kräfteverteilung nach dem Verhältnis der Zweitstimmen sichergestellt war, kamen zu den Überhangmandaten (Wahlkreissiege für Parteien, die über ihr Zweitstimmenresultat hinausgehen), noch Ausgleichsmandate für andere Parteien hinzu. So wuchs der Bundestag mit planmäßig 598 Mandaten auf mehr als 730 an. Diese Ausuferung sollte eingegrenzt werden, und das geschieht nun auch.
Der Preis dieser Wachstumssperre lautet: Künftig wird nicht mehr jede Region zwingend einen Abgeordneten nach Berlin entsenden. Wahlkreissieger mit schwachen Ergebnissen können rausfallen, wenn ihre Partei mehr Wahlkreise errungen hat als ihr laut Zweitstimmen zustehen. Die Gefahr von „weißen Flecken“ entsteht – Regionen, die keinen eigenen Wahlkreisabgeordneten haben.
Ist dieser Preis zu hoch? Ja, das ist er. Zwei Gründe sprechen gegen das Urteil aus Karlsruhe. Erstens war der garantierte Einzug jedes Wahlkreissiegers in den Bundestag bisher ein Akt der regionalen Verankerung. Jeder Bürger konnte sicher sein, einen regionalen Ansprechpartner im Parlament zu haben (sofern dieser nicht im Laufe der Periode wieder ausgeschieden war). Wer das Parlament nicht bloß als Ort der Vertretung unterschiedlicher politischer Richtungen ansieht, sondern auch als Ort der Vertretung verschiedener Regionen, kann diese Kappung bei den Wahlkreisen nicht gutheißen.
Das mit der jetzt höchstrichterlich bestätigten Ampel-Wahlrechtsreform gestärkte Verhältniswahlrecht erleichtert aber keine Mehrheitsbildung.
Zweitens kommt noch ein grundsätzlicher Einwand hinzu: Wir erleben derzeit eine Aufsplitterung der politischen Lager in Parteien und Gruppen, die immer weniger in der Lage sind, sich untereinander auf Ziele und Reformen zu verständigen. Schon die eher traditionellen Parteien SPD, Grüne und FDP schaffen das derzeit nicht. Das mit der jetzt höchstrichterlich bestätigten Ampel-Wahlrechtsreform gestärkte Verhältniswahlrecht erleichtert aber keine Mehrheitsbildung. Es sorgt nur dafür, die Vielfalt der Stimmungen im Parlament abzubilden. Anders als in den USA oder in Großbritannien gibt es aber – mit Ausnahme der Fünf-Prozent-Klausel – keine Schritte, die größeren Parteien zu begünstigen und ihnen damit eine besondere Funktion zuzuordnen. Das ist ein Fehler. Man kann den größeren Parteien, also CDU/CSU, SPD und Grünen – wohl unterstellen, stärker als alle anderen einen „Volksparteicharakter“ zu haben, also eine große Bandbreite an Positionen aufzunehmen und im Programm zu verarbeiten. Das kann es rechtfertigen, sie auch im Wahlrecht in ihrer Rolle zu stärken.
Wie kann man das tun? Eine Variante wäre, nur 299 Sitze nach dem Verhältniswahlrecht der Zweitstimmen zuzuordnen, die andere Hälfte des Bundestags, ebenfalls 299 Sitze, aber über die Wahlkreise zuzuteilen. Das würde wohl vor allem CDU/CSU und SPD stärken – und es hätte den Effekt, diesen beiden Parteien eine Leitfunktion bei der Regierungsbildung zu geben.
Einen Einwand dagegen gibt es: Tatsächlich ist in Ostdeutschland gegenwärtig die AfD so stark, dass auch sie – wenn auch regional begrenzt – derzeit von einer Einführung dieser Mehrheitswahlrecht-Elemente profitieren würde. Nur: Ein Wahlrecht, das speziell den möglichen Erfolg einer ungeliebten Partei wie der AfD unterbinden soll, kann es vermutlich gar nicht geben, und vielleicht sollte es auch nicht. Außerdem wäre es ja möglich, dass SPD und CDU für ostdeutsche Wahlkreise ein Abkommen schmieden: Sie stellen gegen den AfD-Bewerber nur einen eigenen, gemeinsamen Wahlkreiskandidaten auf.
Dieser Artikel erschien am 31.07.2024 in der Ausgabe #127.
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