Der Mord ist männlich. Diese Weisheit scheint nicht nur grammatikalisch glasklar, auch der Wahrheitsgehalt dieser Aussage wird allgemein angenommen. Aber ist das so? In der jüngsten Strafverfolgungsstatistik für Niedersachsen, die Justizministerin Barbara Havliza gestern in Hannover vorgestellt hat, sprechen die Zahlen für sich: 149 Personen wurden im vergangenen Jahr wegen sogenannter Straftaten gegen das Leben verurteilt. Nur 24 davon waren Frauen. Die zehn Menschen darunter, die wegen Mordes verurteilt wurden, waren allesamt männlich. In den vergangenen fünf Jahren wurde nur ein einziges Mal eine Frau wegen Mordes rechtskräftig verurteilt, im Jahr 2017. Demgegenüber stehen 44 männliche Mörder.

Auch wegen versuchten Mordes wurden 2019 ausschließlich Männer gerichtlich belangt, sieben an der Zahl. Beim Totschlag hingegen finden sich unter den 40 Verurteilten des vergangenen Jahres immerhin auch zwei Frauen, trotzdem natürlich ein verschwindend geringer Anteil im Vergleich zu den männlichen Tätern. In den zurückliegenden Jahren dominierten auch hier stets die Männer.

Justizministerin präsentiert die erste Strafverfolgungsstatistik

„Kriminologen attestieren Männern eine höhere Gewaltbereitschaft“, wagt Havliza den Versuch einer Erklärung. Sie hätten ein höheres Aggressionspotenzial als Frauen. Allerdings stellt die Justizministerin auch fest: „Wenn Frauen töten, ist es meistens ein Mord und kein Totschlag.“ Das liege daran, dass Frauen den Männern körperlich unterlegen seien. Um einen Menschen umbringen zu können, bräuchten sie also meist Hilfsmittel wie zum Beispiel Gift und eine längere Vorbereitung. Bei Männern komme es eher mal zu einer Tat im Affekt, ein unbedacht harter Schlag in der Wut zum Beispiel – dann fehlt es am entsprechenden Mordmerkmal. Die Statistik der vergangenen fünf Jahre in Niedersachsen bestätigt diese These zwar nicht, wohl aber die langjährige Erfahrung der früheren Richterin Havliza.

Foto: nkw

Auch in anderen Bereichen der Kriminalität lässt sich ein Gender-Gap erkennen: Wegen illegaler Autorennen wurden beispielsweise nur Männer verurteilt, beim Betrug sind aber auch die Frauen gut mit dabei. Havliza spricht dabei von den „Quellekatalog-Delikten“, wie man das früher genannt hat, wenn beim Versandhandel deutlich mehr bestellt wurde, als bezahlt werden kann. Heute geschieht das natürlich meistens über das Internet und nicht mit einem Versandhaus-Katalog.

Insgesamt lebt es sich in Niedersachsen allerdings zunehmend sicherer. Zwar sei die Zahl der strafrechtlich Verurteilten von 2018 auf 2019 um ein Prozent angestiegen, im längerfristigen Trend weist die Statistik aber einen Rückgang aus. Das Risiko, in Niedersachsen Opfer eines Tötungsdeliktes zu werden, sei relativ gering, meint die Justizministerin. Auch Thomas Hackner, Abteilungsleiter für den Bereich Strafverfolgung im Justizministerium, teilt diese Einschätzung. In absoluten Zahlen sei dieser Bereich nicht gravierend, aber die schwere der Taten rücke sie natürlich in den Blickpunkt, so Hackner. Bei den Mordfällen befinde man sich aber auf einem „stabilen, niedrigen Niveau“ – zumindest in Relation zu einer Bevölkerung von etwa acht Millionen Menschen.

Antwort auf die Kriminalitätsstatistik der Polizei

Gestern hat das Justizministerium erstmals die Strafverfolgungsstatistik öffentlich vorgestellt. Man will damit gewissermaßen eine Replik geben auf die polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS), die bereits jährlich vom Innenministerium vorgelegt wird. „Die PKS ist eine reine Verdachtsstatistik“, erläutert Havliza. „Sie gibt die von der Polizei bearbeiteten Straftaten und verdächtigten Personen wider.“ Sie sage allerdings nichts darüber aus, was strafprozessual hinterher daraus geworden ist, sprich: wer wurde letztlich verurteilt? In den vergangenen zwölf Jahren sei die Anzahl der strafrechtlich Verurteilten in Niedersachsen um 23 Prozent zurückgegangen. Würde man den Blick noch weiter in die Vergangenheit richten, wäre der Rückgang sogar noch deutlicher, betont die Ministerin. Allerdings müsste man Papierakten aus dem Archiv holen, um das belegen zu können, denn erst seit 2007 sind die Prozessakten digital archiviert. Das Signal sei jedoch klar – und schön: die Kriminalität geht zurück. Eine entscheidende Ursache dafür erkennt die Justizministerin etwa im demographischen Wandel. Denn Mord und Kriminalität im Allgemeinen ist nicht nur männlich (82 Prozent aller Niedersachsen, die 2019 strafrechtlich verurteilt wurden, waren Männer), sondern auch jung. Allein für die praktische Ausführung eines Einbruchs oder Diebstahls bietet es sich an, noch agil zu sein. Das ist die niedersächsische Gesellschaft allerdings zunehmend weniger. Mehr Sicherheit ist also ein Vorteil des sonst eher pessimistisch betrachteten demographischen Trends.

Mehr Verurteilte aufgrund von Sexualdelikten

Doch nicht in allen Bereichen der Strafverfolgungsstatistik setzt sich der negative Trend durch. Einen deutlichen Anstieg verzeichnet das Justizministerium bei den Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Von 2018 auf 2019 weist die Statistik hier eine Zunahme der Verurteilung um acht Prozent an – von 757 verurteilten Straftätern auf 824. Besonders im Bereich der Vergewaltigungen ist der Anstieg enorm: Waren es 2018 noch 38 Verurteilte, sind es 2019 schon 63 gewesen. Havlizas Abteilungsleiter Hackner macht dafür zwei Gründe aus. Zum einen sei das Sexualstrafrecht verschärft worden, als man auch in der Bundesrepublik die sogenannte Istanbul-Konvention umgesetzt habe. Diese rechtliche Änderung sei bekannt unter dem Slogan „Nein heißt Nein“. Zum anderen habe sich die Anzeigebereitschaft bei den betroffenen Frauen erhöht. Dies wurde auch befeuert durch den gesellschaftlichen Diskurs im Zusammenhang mit der Gesetzesänderung und der Me-too-Bewegung.

Sexuelle Gewalt sind keine reinen Männerdelikte, aber für Männer ist es unheimlich schwer, sie anzuzeigen.

Während beim sexuellen Missbrauch so gut wie keine Frauen unter den Verurteilten zu finden sind, gibt es immerhin gelegentlich ein paar Frauen, die wegen Stalkings, also Nachstellens einer anderen Person, verurteilt wurden. In beiden Fällen bildete die Statistik hier aber nicht die Realität ab, ist sich Hackner sicher. Männer zeigen solche Taten nur nach wie vor seltener an, weil es ihrem Rollenverständnis widerspricht. „Sexuelle Gewalt sind keine reinen Männerdelikte, aber für Männer ist es unheimlich schwer, sie anzuzeigen“, stellt auch Havliza fest. Man müsse noch „tüchtig daran arbeiten, dass das anders wird“, so die Ministerin.


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Bei einer anderen Gruppe von Opfern sexueller Gewalt ist zwar kein gravierender Anstieg der Verurteilungen festzustellen, doch verharrt dieser auf einem „stabilen aber leider recht hohen Niveau“, so Hackner. Gemeint sind Kinder und Jugendliche, die missbraucht werden, auch zum Zwecke der Herstellung kinder- und jugendpornografischen Materials. 226 Täter wurden 2019 wegen Verbreitung, Erwerb oder Besitz von solchen Bildern oder Filmen verurteilt. Das ist zwar nicht der höchste Wert in dieser Kategorie, 2016 waren es etwa 232 Verurteilungen, 2017 waren es sogar 233. Hackner geht jedoch von einem weiteren Anstieg der Verurteilungen in diesem Bereich aus. Aufgrund der Art der Ermittlungen in diesem Feld erfolgten diese nur meistens in Wellen: Wird irgendwo auf der Welt ein Täter aufgespürt, stoßen die Ermittler meist auf ein ganzes Netzwerk.

Von Niklas Kleinwächter