Der niedersächsische Bundestagsabgeordnete Wilhelm Helms (rechts) hätte 1972 beinahe Bundeskanzler Willy Brandt zu Fall gebracht. | Deutscher Bundestag/Slomifoto, Presse-Service Stepionaitis, Montage: Rundblick

Der Vorfall jährt sich in diesen Tagen zum 50. Mal – und er hat durchaus die Qualität anderer großer Ereignisse der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. In der Reihe des Mauerfalls von 1989, der Barschel-Affäre von 1987 und der Spiegel-Affäre von 1962 steht auch das gescheiterte Misstrauensvotum der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 27. April 1972, also vor ziemlich genau 50 Jahren. Damals hatte die christdemokratische Opposition fest damit gerechnet, eine Mehrheit von 249 Stimmen gegen den von SPD und FDP unterstützten Bundeskanzler Willy Brandt zu bekommen.

Der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Rainer Barzel sollte neuer Regierungschef werden. Doch in der entscheidenden Abstimmung fehlten Barzel zwei Stimmen aus dem Lager, das ihm zugerechnet worden war. Später wurde bekannt, dass mindestens zwei Unionsabgeordnete für ihre Stimmabgabe Geld angenommen haben sollen – und dass dabei auch die DDR-Staatssicherheit ihre Hände im Spiel gehabt hatte.

Rainer Barzel bei einer Großkundgebung der CDU zur Bundestagswahl in der Kölner Messehalle. | Foto: Bundesarchiv

Mindestens drei damals hinter den Kulissen aktive Politiker – von CDU, CSU und SPD – hatten mehr oder weniger enge Kontakte zum DDR-Geheimdienst gehabt. Dennoch sind die damaligen Vorgänge bis heute nicht vollständig aufgearbeitet, vieles bleibt bis heute im Bereich der Vermutungen. Der weitere Verlauf der Ereignisse war so: Das gescheiterte Misstrauensvotum vom April 1972 verschaffte Brandt einen Auftrieb, die SPD siegte am 19. November bei der Bundestagswahl mit einem überragenden Ergebnis. Aber schon zwei Jahre später, im Mai 1974, trat Brandt wegen der Affäre um den DDR-Spion Günter Guillaume, der sein persönlicher Referent gewesen war, als Kanzler zurück.

Der „Willy-Wahlkampf“ vom Sommer und Herbst 1972 ist gleichwohl bis heute für viele in der SPD ein besonderes Erlebnis der Entschlossenheit und Zuversicht. Im zurückliegenden Bundestagswahlkampf versuchten einige Sozialdemokraten, daran emotional anzuknüpfen. Dennoch liegt über dem Misstrauensvotum im Frühjahr dieses Schicksalsjahres 1972 ein dunkler Schleier. Der schlimme Verdacht bleibt in der Luft, die SED-Führung in Ost-Berlin habe über eine finanzielle Einflussnahme versucht, die politischen Geschicke in der Bundesrepublik in ihrem Sinn zu steuern.

Welche Rolle spielte Wilhelm Helms wirklich?

Was in der Berichterstattung über die damaligen Vorgänge meistens untergeht, ist ein besonderer niedersächsischer Aspekt der Ereignisse von damals. Es gab einen FDP-Bundestagsabgeordneten, Wilhelm Helms aus Heiligenloh, heute Ortsteil der Stadt Twistringen (Kreis Diepholz), der in den Diskussionen um das Misstrauensvotum eine wichtige Rolle spielte, nach Zeitzeugenberichten sogar den Ausschlag dafür gab, dass die CDU/CSU-Fraktion das Wagnis des dann gescheiterten Antrags im Bundestag überhaupt startete. Welche Rolle Helms spielte, ist während dieser aufgeregten Tage um das Misstrauensvotum, das die politische Öffentlichkeit in der Bundesrepublik aufwühlte, und auch später unklar geblieben. Es beschäftigte die Historiker, die Politiker und die Beobachter – und dann auch die Gerichte.

Der Landwirt und Kommunalpolitiker Helms startete in den fünfziger Jahren in der Deutschen Partei und wechselte später zur FDP. Sein Agieren beim FDP-Landesparteitag 1968 führte dazu, dass am Ende die Erneuerung und Linkswende der Landespartei unter dem neuen Vorsitzenden Röttger Groß beginnen konnte. Helms wurde 1969 für die FDP in den Bundestag gewählt, wurde dort dem konservativen Flügel zugerechnet. Schon 1970 hatten drei FDP-Abgeordnete die Fraktion verlassen und sich der CDU/CSU angeschlossen, Ausschlag gab der Streit über die Ostpolitik. Im Februar 1972 folgte der SPD-Abgeordnete Herbert Hupka. Die Situation wurde für Brandt immer brenzliger.

Willy Brandt beim außerordentlichen Parteitag der SPD in der Westfalenhalle Dortmund. | Foto: Bundesarchiv

Es dürfte nicht übertrieben sein, den Schritt von Helms als den wohl entscheidenden anzusehen: Am 23. April, dem Tag der Landtagswahl in Baden-Württemberg (mit absoluter Mehrheit für die CDU), trat Helms aus der FDP aus und begründete dies „mit innerparteilichen Gründen“. Dieser Schritt bewegte die CDU/CSU-Fraktion am folgenden Tag dazu, den Antrag auf das Misstrauensvotum zu stellen. Sowohl Helms als auch zwei weitere, in der FDP verbliebene Bundestagsabgeordnete erklärten sodann, für Barzel und gegen Brandt stimmen zu wollen. Barzel fühlte sich offenbar siegesgewiss.



Hatte Helms aus Überzeugung gehandelt – oder war sein Schritt womöglich gar dem Ziel geschuldet, die CDU/CSU in falscher Sicherheit zu wiegen? Auf dem Papier sah es so aus, als würden die übergelaufenen Abgeordneten, Helms und zwei mit der Ostpolitik unzufriedene Politiker der FDP, die nötige Mehrheit von 249 Stimmen für Barzel gewährleisten. Am Ende erreichte der CDU/CSU-Fraktionschef in der Abstimmung am 27. April dann nur 247 Stimmen – zwei aus seinem Lager fehlten.

An wem scheiterte das Misstrauensvotum gegen Brandt?

Wer die beiden waren, beschäftigte später jahrelang die deutsche Politik. Im Bundestag wurde gar ein Untersuchungsausschuss eingerichtet. Zunächst erklärte der baden-württembergische CDU-Abgeordnete Julius Steiner, vom SPD-Abgeordneten Karl Wienand – einem Vertrauten von SPD-Fraktionschef Herbert Wehner – 50.000 D-Mark erhalten zu haben. Wienand bestritt das, später wurde dann aber bekannt, dass er lange Zeit enge Kontakte zur Stasi gehabt habe. Äußerungen von Wehner ließen vermuten, dass auch er selbst hinter den Kulissen aktiv gewesen war.

Der SPD-Abgeordnete Karl Wienand (links), hier mit Helmut Schmidt, wurde 1975 wegen Steuerhinterziehung und 2004 wegen Beihilfe zur Untreue verurteilt. | Foto: Bundesarchiv

In den Verdacht, einer der Überläufer gewesen zu sein, geriet zudem der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Leo Wagner, über den später auch Geheimdienstkontakte in die DDR bekannt wurden – allerdings erst für eine spätere, 1976 beginnende Periode. Absolute Klarheit gibt es nicht, weitere Namen von Abgeordneten, auch von Ingeborg Geisendörfer (CSU), kursierten immer wieder. Es gab auch Hinweise, die Stasi könne den zur CDU übergewechselten früheren FDP-Chef Erich Mende mit intimen Kenntnissen aus dessen Leben unter Druck gesetzt und ihn so zur Stimmabgabe gegen Barzel genötigt haben.

Was Helms angeht, ist wohl die Einschätzung zutreffend, er sei damals „zwischen die Mühlsteine der Politik geraten“. Er klagte vor Gericht sowohl gegen eine Formulierung im Buch des Historikers Arnulf Baring, als auch gegen die „Erinnerungen“ von Willy Brandt. In beiden Publikationen war die Wankelmütigkeit von Helms beschrieben worden – und Brandt hatte erwähnt, Helms habe ihm mit Tränen in den Augen gestanden, „wegen seines Hofes“ gegen den Kanzler gestimmt zu haben. Das weckte damals den Verdacht, Helms sei bestochen worden – was er vehement von sich wies. Sonderbar ist allerdings noch etwas anderes: Schon Wochen vor dem Misstrauensvotum galt Helms als jemand, der kritisch zur Ostpolitik der sozialliberalen Koalition stand – und mit dem die FDP-Spitze im intensiven Dialog stand.

Bestechungsversuch wurde nie aufgeklärt

Der Historiker Andreas Grau schrieb vor Jahren, ein Umstand sei sehr merkwürdig gewesen: Helms habe wiederholt in Interviews erklärt, die FDP-Spitze habe im April 1972 versucht, ihn „zu bestechen“. Im Untersuchungsausschuss des Bundestages, der ja gerade Bestechungsversuche aufhellen sollte, wurde Helms allerdings nicht gehört, obwohl er es mehrfach angeboten habe. Er ließ indes keinen Zweifel daran, in der entscheidenden Abstimmung für Barzel votiert zu haben – also nicht zu den Überläufern zu gehören. Später wechselte Helms zur CDU und bekam von der CDU auch eine Chance, er wurde Europaabgeordneter.

Helms, wie auch fast alle anderen Beteiligten, sind mittlerweile verstorben. 2013, zu seinem 90. Geburtstag, hatte er von dem Spießroutenlauf berichtet, den er in den Wochen, Monaten und Jahren danach habe aushalten müssen. Ihm sei es um die politische Richtung gegangen, und die Richtung der sozialliberalen Koalition in der Ostpolitik habe ihm nicht mehr gepasst, die Annäherung Brandts an die Mächtigen im Ostblock sei ihm bedenklich erschienen. Das ist eine Begründung, die fast übertragbar wäre auf aktuelle Diskussionen.