Der Sozialphilosoph Oskar Negt aus Hannover sieht im Auftreten von Rechtspopulisten in Deutschland ein „faschistisches Potenzial“. Im Interview mit Klaus Wallbaum rät er dazu, die Krisenherde zu bekämpfen – und soziale Verwerfungen zu korrigieren.

Rundblick: Herr Negt, in Amerika ist Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt worden. Um uns herum gewinnen rechtspopulistische Parteien an Gewicht – oder übernehmen gar die Regierung. In Frankreich, in Holland, in Dänemark, in Polen und in Österreich. Haben Sie das eigentlich erwartet?

Oskar Negt: Nein, das kann ich nicht sagen. Aber ich finde diese Entwicklung äußerst bedrohlich. Erstmals in der Nachkriegszeit hat ein faschistisches Potenzial Massenanhang. In den zwanziger Jahren haben die Nazis die Putschisten in ihren Reihen vertröstet auf das Ergebnis der Wahlen. Das heißt, mit normalen institutionellen Regeln ergreift die NSDAP die Macht und erbeutet den Staat. Jetzt haben wir es wieder, dass eine Bewegung, die demokratische Strukturen abschaffen will, demokratische Prozeduren dazu benutzt. Darin sehe ich eine sehr große Gefahr.

Oskar Negt im Gespräch mit Rundblick-Chefredakteur Klaus Wallbaum - Foto: JW

Oskar Negt im Gespräch mit Rundblick-Chefredakteur Klaus Wallbaum – Foto: JW

Rundblick: Ist der Vergleich von AfD und Nazis nicht etwas gewagt?

Oskar Negt: Ich spreche vom Saatgut, das hier verwendet wird. Es sind nicht mehr die Aufklärungstraditionen von Jürgen Habermas, Joachim Perels und mir, die hier zugrunde liegen. Es ist zum ersten Mal in der Nachkriegszeit eine Umdefinition des Lebens und des Lebenswerten, eine Umdefinition von Werthaltungen als faschistisches Potenzial. Das drückt sich auch in Demonstrationen aus, in denen die Nähe zum alten traditionellen Faschismus nicht verborgen wird. Es gibt da eine ganze Reihe von Leuten, die aus einem Hinterhalt heraus ausprobieren, wie weit man gehen kann und welcher Symbole man sich bedienen kann. Natürlich ist diese Trump-Wahl in den USA auch eine Wahl der Gegenaufklärung. Das richtet sich gegen die menschliche Würde und Gleichheit, Vermeidung von Diffamierung des Andersdenkenden. Immer stärker sind an dieser Umdefinition auch Intellektuelle beteiligt, vor allem im Kampf gegen die Gleichheit.

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Rundblick: Was soll man dagegen tun?

Oskar Negt: Die Potenziale haben sich radikal verändert. Und was die Ursachen betrifft, war ich nie der Auffassung von Jürgen Habermas. Der meinte, es reiche, Europa in den Institutionen näher zu bringen. Darunter ist noch ein Bereich unterschlagener Wirklichkeit vorhanden. Der berührt die Lebensverhältnisse, die Not der Jugendlichen. Wir haben eine ganze Reihe von Krisenherden, die beackert werden müssen. Sie müssen zu Handlungsfeldern werden, und das ist gegenwärtig nicht der Fall, zumal die Kanzlerin angekündigt hat, noch weitere vier Jahre in diesem Stil der Verdrängung von Krisenherden weitermachen zu wollen.

Rundblick: Nennen Sie doch mal ein paar Krisenherde, die man beackern müsste.

Oskar Negt: Mein Plädoyer für die Intensivierung der politischen Bildung hat damit zu tun, vor allem wenn ich betrachte, welch krause Vorurteilsbildung plötzlich auftritt. Die Ausgrenzung des Fremden zum Beispiel, für sie ist die Flüchtlingsproblematik ja nur ein Anlass gewesen. Es geht nicht nur gegen die Fremden, sondern auch gegen das Fremde, gegen Lebensstile und Lebenshaltungen.

Rundblick: Ist es nicht verständlich, dass die Ängste wachsen wegen der Globalisierung und Digitalisierung?

Oskar Negt: Ja, schon. Ich spreche von einem Angstrohstoff, der sich gebildet hat. Gespeist wird er durch verschiedene Dinge – die Not der Leute, die Abstiegsängste, die Sorge um alte nationale Traditionen, wie sie sich etwa in der Brexit-Abstimmung in Großbritannien äußerten. Zusätzlich geschürt wurden diese Ängste durch die Flüchtlingsproblematik. Da ballt sich etwas zusammen. Verstehen kann ich das gut. Wenn VW verkündet, die 50-Jährigen ausgliedern zu wollen, wo bleiben dann die Leute? Der Kapitalismus hat keine Barrieren mehr. Die Globalisierungsperspektive ist in unserer Gesellschaft zu dominant, die Schule ist nicht eingestellt auf das Begreifen globaler Prozesse. Die Politik müsste also Reformen an Haupt und Gliedern in Gang bringen, sie muss starke Gegenkräfte zum Kapitalismus aufbauen. Wenn jedes vierte Kind unter Armutsbedingungen aufwächst, wenn das Sicherheitsgefühl schwindet, wenn das Gerede von der angeblich sicheren Rente sich als falsch erweist – dann stimmt im Gefüge etwas nicht, das Betriebsklima, in dem wir leben, ist durch ein neues Unbehagen bestimmt. Es sind ja auch bei den Pegida-Demonstrationen keineswegs nur sozial Schwache vertreten. Aber da sind viele, die das Gefühl haben, etwas zu verlieren.

Rundblick: Ganz praktisch: Was ist jetzt zu tun?

Oskar Negt: Es geht zum Beispiel um die Demokratie, ist es doch längst nicht so, dass alle Menschen diese Staatsform für die beste aller möglichen halten. Manche wollen zurück zu Befehl und Gehorsam, andere sehnen sich zurück zu starken Nationalstaaten. Da müssen wir gegenhalten. Oder die betriebswirtschaftliche Ideologie in allen Lebensbereichen, die sich etwa in der Pflege oder in der Sterbebegleitung ausdrückt. Wir müssen den Menschen die Angst nehmen, dass ihre Gesellschaft zusammenbricht – und deshalb müssen wir etwas tun gegen die Dreiteilung der Gesellschaft: Ein Drittel ist etabliert, ein Drittel sind Menschen mit prekären Beschäftigungsmöglichkeiten, denen die Möglichkeit genommen ist, Perspektiven zu entwickeln. Die dritte Gruppe, die ich für noch gefährlicher halte, ist die wachsende Armee der dauerhaft Überflüssigen. Die Menschen über 50 werden ausgegliedert, aber die Lebenserwartung nimmt zu – was soll mit ihnen geschehen?

Rundblick: Sollte es Veränderungen am politischen System geben? Die Linke hat immer nach mehr Volksabstimmungen gerufen. Derzeit würde man das doch nicht tun, oder?

Oskar Negt: Der Liberale Friedrich Naumann hat einmal gesagt: Demokratie ist sinnvoll nur in den Händen eines aufgeklärten Volkes. Im Augenblick haben wir es in Deutschland mit einem weitgehend gut funktionierenden Rechtssystem zu tun. Aber wie sieht es aus im europäischen Zusammenhang? In den Nachbarländern gibt es bedenkliche Entwicklungen, und die dringen immer weiter vor ins Zentrum. Von Volksabstimmungen würde ich derzeit auch die Finger lassen. Wenn es eine Abstimmung über die Wiedereinführung der Todesstrafe gäbe, wäre ich nicht sicher, was dabei herauskommt.

Rundblick: Sie werben für ein rot-rot-grünes Bündnis nach der nächsten Bundestagswahl. Mit welchem SPD-Kanzlerkandidaten sollte das umgesetzt werden?

Oskar Negt: Ich denke mit Sigmar Gabriel. Aber das Feilschen um den richtigen Kandidaten ist nicht das eigentliche Thema. Es geht vielmehr um die Wiederherstellung von Glaubwürdigkeit in der Politik. Das war doch der große Trumpf von Trump in den USA: Er hat den Leuten Veränderung versprochen. Die Politik muss den Menschen zeigen, dass sie bereit ist zu gestalten. Die Linke darf sich nicht zerstreiten und dabei zusehen, wie die Rechte den Staat erbeutet.