Soziale Einrichtungen und Verbände versuchen, mit kostenlosem Essen oder günstiger Kleidung die finanzielle Not vieler armer Menschen in Niedersachsen auszugleichen. Doch sie sehen sich immer häufiger am Limit und rufen nach Unterstützung. „Es geht nicht, dass immer die Ehrenamtlichen das Leid auffangen sollen. Die Politik verlässt sich zu sehr auf uns“, kritisiert Bergith Franke, die ehrenamtlich in der hannoverschen Kleiderkammer des Vereins Gemide (gesellschaftliches Engagement von Migrantinnen, Migranten und Deutschen) hilft. Wenn Ehrenamtliche schon so viele Aufgaben übernehmen, sagt sie, dann sollten diese auch besser ausgestattet sein – sowohl finanziell als auch personell. So suche der Verein beispielsweise händeringend pädagogische Mitarbeiter.

Die Kleiderkammer im hannoverschen Stadtviertel Roderbruch hat in mehr als fünf Jahren über 2000 Menschen geholfen. | Foto: Gundlach AG

Zahlreiche Kunden kommen jede Woche in die Kleiderkammer, wo sie neben Kleidung auch Haushaltswaren wie Besteck, Geschirr, Handtücher oder auch Bettwäsche bekommen können. Nur nach einer vorherigen Terminabsprache darf man in die Kleiderkammer, das hat sich durch die Corona-Pandemie so eingebürgert. „Unsere Kunden sind teilweise sehr hilflose Wesen. Viele Familien haben drei bis sechs Kinder und kommen deshalb jede Woche“, erklärt Franke. Nach der Corona-Pandemie und der anschließenden Energiekrise und Inflation ist der Strom an Hilfsbedürftigen kontinuierlich gewachsen. „So etwas habe ich noch nicht erlebt“, sagt Hülya Feise, Gründerin des Integrationsprojektes Gemide.

Neben der Kleiderkammer betreibt der Verein auch eine Fahrradwerkstatt und einen Lerngarten, veranstaltet Geschenkaktionen und macht wertvolle Jugendarbeit. Die mehr als 300 Ehrenamtlichen bilden ein festes Netzwerk, ein Auffangnetz für Hilfsbedürftige, Arbeitssuchende oder auch Schüler. Rund 67 Jugendliche nehmen an regelmäßigen Kochaktionen mit Senioren teil, helfen im Garten oder organisieren selbst eine Kleiderkammer. „Man kann von außen immer von Demokratie und Toleranz reden, bei uns wird das gelebt und so erlebt“, sagt Feise. Bereits in ihrer Heimat, der Türkei, engagierte sie sich ehrenamtlich und gründete kurz nach ihrer Ankunft in Deutschland den Verein Gemide. Das Ist jetzt rund 20 Jahre her.



Jeder darf den Verein mitgestalten und deshalb ist die Arbeit wohl auch so erfolgreich. Bei Gemide gilt: Das Angebot richtet sich nach den Wünschen der Ehrenamtlichen. Als eine Gruppe von Jugendlichen auf die studierte Sozialpädagogin zuging und um den Aufbau dieser Kleiderkammer bat, stellte Feise einen ihrer zwei Büroräume zur Verfügung. Dort stapeln sich nun in den Regalen die Kleidungsstücke und Spielsachen. Ein besonderer Kraftakt ist Gemide erst kürzlich bei einer großangelegten Hilfsaktion für Erdbebenopfer in der Türkei und Syrien gelungen. In einer Lagerhalle sammelten sie Kleidung und andere Hilfsgüter, die dann mit Lastwagen ins Krisengebiet gebracht wurden – alles überwacht und koordiniert von Feise. „Ich habe das Gefühl, dass ich über Nacht gewachsen bin. Vorher hatte ich keine Ahnung von Logistik“, sagt die Mutter zweier Kinder.

 „Andere denken immer, dass wir so gut ausgerüstet sind. Aber ich bin die einzige Hauptamtliche“, sagt Feise, die zeitgleich auch als Trägerin von Gemide fungiert. Alle zwei Jahre muss das Projekt verlängert werden, um Gelder zu erhalten. „Das ist schrecklich. Man hat keine Arbeitssicherheit. Letztes Jahr musste ich mich arbeitslos melden, weil ich nicht wusste, ob wir wieder verlängert werden“, sagt die Trägerin des Verdienstordens der Bundesregierung. Wenn ihre Stelle nicht bewilligt werden würde, fielen sämtliche Angebote weg. Eine eigentlich unzumutbare Arbeitssituation. Immerhin bei der Kleiderkammer ist der Verein halbwegs abgesichert. Sowohl die Räumlichkeiten als auch die Strom- und Gaskosten werden vom Vermieter übernommen. Noch mehr als finanzielle oder personelle Unterstützung, wünscht sich Feise jedoch etwas anderes: „Ich wünsche mir so sehr, dass wir diese Arbeit nicht mehr machen müssen. Aber der Bedarf ist enorm.“