Am Hinterkopf werden die graumelierten Haare schon etwas licht. Wie ein Greis wirkt Matthias L. aber ganz sicher nicht, der an diesem Freitagmorgen im Landessozialgericht in Celle sitzt. Der Mann aus dem Landkreis Stade beteuert, dass er 1919 geboren wurde und Anspruch auf Altersrente hat. Laut dem Versicherungskonto der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV) erreicht der Mann allerdings im Sommer 2040 das Renteneintrittsalter, weil er tatsächlich erst 48 Jahre alt ist. Es ist ein kurioser Fall, der hier in zweiter Instanz verhandelt wird.

Der Kläger (links) Matthias L. wirkt vor Gericht nicht wie ein 102-Jähriger. / Foto: cwl

Von der Rentenversicherung forderte L. bereits ab 1. August 2020 seine Altersbezüge ein. Die DRV lehnte ab, wogegen der 48-Jährige vorm Sozialgericht Stade klagte – und verlor. Daraufhin reichte er Revision beim Landessozialgericht ein, das diesbezüglich allerdings einige Bedenken hatte und auf persönliches Erscheinen des Klägers bestand. Denn: „Das vom Kläger eingereichte Lichtbild war nicht mit dem eines 1919 Geborenen in Einklang zu bringen“, sagte der Vorsitzende Richter Uwe Dreyer. Er habe dem Mann auch mehrfach nahe gelegt, die Fortführung des Verfahrens zu überdenken. Doch der blieb stur und betonte auch vor Gericht mehrfach, dass er sein hohes Alter von 102 Jahren jederzeit mit einer eidesstattlichen Erklärung untermauern würde.

„Aus Sicherheitsgründen ist nicht publik gemacht worden, welches Geburtsdatum ich wirklich habe.“

Matthias L.

Welfen-Familie zurückführt, bleibt offen. Über seine Vergangenheit will L. nicht sprechen. „Aus Sicherheitsgründen ist nicht publik gemacht worden, welches Geburtsdatum ich wirklich habe“, erzählt er und berichtet von einem mysteriösen Unfall, der sich 1973 zugetragen haben soll. „Den Stader Behörden ist der Fall im Prinzip bekannt“, sagt L. und gibt sich selbstbewusst. „Die einzige Voraussetzung für eine Altersrente habe ich erfüllt – schon ein paar Jahre“, sagt er mit ernsten Gesichtsausdruck. Aus seiner Sicht gehe es jetzt nur noch um die Höhe der Bezüge.

Vorgesetzte des Klägers Matthias L. sagt vor Celler Landessozialgericht aus

Landessozialgericht Celle / Foto: cwl

„Ich denke, das ist sehr eindeutig, dass kein Anspruch auf Altersrente besteht“, sagt der Justiziar der Rentenversicherung, der eher pro forma anwesend ist. Größeres Interesse hat das Gericht an der Aussage der 36 Jahre alten Vorgesetzten des Klägers. Diese berichtet, dass L. in Vollzeit beim Landkreis Stade angestellt ist und sich bei einem Amt um Bürgeranfragen kümmert. „Ich war ein bisschen geschockt, dass mein Arbeitgeber geladen wur- de“, sagt der gelernte Verwaltungsfachangestellte, der 1992 seine Ausbildung startete – zu diesem

Zeitpunkt wäre er nach eigenen Angaben schon 73 Jahre alt gewesen. Die Anwesenheit seiner Teamleiterin tut L. als unnötig ab. „Sie hätten sie gar nicht laden brauchen“, meint der 48-Jährige. Er fordert stattdessen ein Altersgutachten von der Universität Hamburg-Eppendorf und bekräftigt seinen Rentenanspruch mit formalen Winkelzügen, die vor Gericht allerdings ins Leere laufen. Der Mann spricht leicht verwaschen, was laut eigener Aussage auf eine spastische Lähmung zurückzuführen ist. Im Gericht trägt er einen grauen Wollpulli und blaue Jeans, eine Brille benötigt er offenbar nicht. Seine Unterlagen hat er in einem Rucksack dabei, den er sich zum Schutz vor den Fotografen lange vors Gesicht hält. Er ist allein erschienen.

Gericht verdonnert selbst erklärten Greis dazu die Verfahrenskosten zu tragen

Matthias L. klagte vor dem Landessozialgericht Celle au Rente, weil er angeblich schon 102 Jahre alt ist. / Foto: cwl

Die Klage vor dem Sozialgericht ist grundsätzlich kostenfrei. Laut Paragraf 192 des Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht jedoch den Kläger zur Kasse bitte, wenn dieser den Rechtsstreit fortführt, obwohl ihm der Vorsitzende die „Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung“ dargelegt hat. Darüber informiert auch Richter Dreyer den 48-Jährigen. Bei seiner Rechtsbelehrung klingt der Jurist wie ein Gameshow-Moderator, der dem Kandidaten klarmachen will, dass er die falsche Antwort eingeloggt hat. Doch L. ignoriert den Wink mit dem Zaunpfahl. „Das Risiko nehme ich in Kauf“, sagt er. Dreyer gibt ihm trotzdem noch eine letzte Chance: „Herr L., sollen wir weitermachen?“, fragt er. „Na, klar“, antwortet der Kläger, ohne nachzudenken.

„Der Kläger führt dieses Verfahren mutwillig.“

Richter Uwe Dreyer

Eine knappe Viertelstunde ziehen sich die Richter zur Beratung zurück. Dann weist Dreyer die Berufung offiziell zurück. „Der Kläger führt dieses Verfahren mutwillig“, stellt der Jurist fest und sagt: „Dass wir es hier nicht mit einem 102-jährigen Menschen zu tun haben, ist – glaube ich – offensichtlich.“ Den selbst erklärten Greis verdonnert das Gericht dazu, sich mit 1000 Euro an den Verfahrenskosten zu beteiligen. Warum ausgerechnet diese Summe? Sie entspricht dem halben Nettomonatslohn des Klägers, erläuter das Landessozialgericht in Celle. Der Vorsitzende Richter und schließt die Verhandlung. Eine Revision ist nicht zugelassen. Um sich nicht mit der Presse auseinandersetzen zu müssen, die er schon in der Verfahrenspause abbügelte, geht der Kläger zügig die Treppe nach unten aus dem Gerichtsgebäude heraus zu seinem Golf, den er um die Ecke geparkt hat. Die Fahrt von Celle nach Stade dauert etwa zwei Stunden. Für einen 102-Jährigen wäre diese Strecke wohl kaum zu schaffen.

28.226 Klagen vor Sozialgerichten: Der Fall des angeblich 102-Jährigen ist kurios und stellt nicht gerade den Alltag der niedersächsisches Sozialgerichtsbarkeit dar. Die acht Sozialgerichte und das Lan- dessozialgericht in Celle beschäftigen sich schwerpunktmäßig auch eher mit dem Bereich Grundsiche- rung, der rund ein Drittel aller Klagen ausmacht. Ein Viertel der Verfahren beschäftigt sich mit der gesetz- lichen Krankenversicherung, erst am dritter Stelle kommt das Rechtsgebiet Rentenversicherung mit etwa 10 Prozent. Insgesamt 28.226 Klagen erledigten die niedersächsischen Sozialgerichte im Jahr 2020 laut dem Bundesamt für Statistik. Laut dem Landessozialgericht ist ein durchschnittliches Klageverfahren nach 15,2 Monaten erledigt, ein Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz innerhalb eines Monats.