Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, fordert entschlossene politische Reformen von der nächsten Bundesregierung – vor allem in der Renten- und Steuerpolitik. Im Interview mit dem Politikjournal Rundblick erläutert der 63-Jährige, was er sich vorstellt und wie das finanziert werden sollte.

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Rundblick: Herr Schneider, welche vier vordringlichen Punkte erwarten Sie von der nächsten Bundesregierung?
 
Schneider: Zunächst muss klar sein: Die nächste Bundesregierung wird in eine schon historische Rolle gedrängt werden – denn die Probleme sind so dringlich, dass ein Vertagen auf irgendeinen Arbeitskreis nicht mehr möglich sein wird. Denken Sie etwa an den Klimawandel. Auch die rasante demographische Entwicklung erlaubt kein Ausweichen mehr…
 
Rundblick: Der Moderator Günther Jauch hat den Parteien neulich Unehrlichkeit vorgehalten – weil sich keiner traue, zu sagen, dass wir künftig alle länger arbeiten müssen, etwa bis 70…
 
Schneider: Das kann Herr Jauch sagen, ich halte es aber für falsch. Die generelle längere Arbeitszeit löst keine Probleme, sie verschiebt sie nur. Denken Sie an die vielen Menschen in der Pflege etwa, die Dachdecker, Tiefbauer und Handwerker, die irgendwann körperlich gar nicht mehr arbeiten können. Schon heute liegt das durchschnittliche Renteneintrittsalter unter 65, viele gehen jetzt schon mit Abschlägen früher. Das dürfte dann so bleiben – nur mit dem Unterschied, dass die Abschläge dann noch höher sein werden. 
 
Rundblick: Wie lösen Sie die Probleme dann?
 
Schneider: Für alle, die es wirklich wollen, sollte eine Ausweitung der Lebensarbeitszeit durchaus erleichtert werden – über eine Verständigung zwischen Arbeitgeber und -nehmer. Was dann die Grundlage der Rente angeht, bin ich dafür, dass wirklich alle Berufsgruppen in die Rentenversicherung einzahlen. Die Beiträge müssen am Einkommen gemessen werden, und zwar nicht nur am Verdienst, sondern auch an Nebeneinkünften (etwa aus Aktien oder aus Vermietung). Wie in der Schweiz sollte die Beitragsbemessungsgrenze für die Einzahlenden erst aufgehoben werden und dann irgendwann wegfallen – eine Obergrenze der Rentenansprüche aber muss bestehen bleiben. Die Säule der gesetzlichen Rente muss gestärkt werden, daneben sollte es keine privaten Zweige mehr geben. Die jahrelangen Versuche, den Menschen die Riester-Rente schmackhaft zu machen, haben doch nicht gefruchtet. Das sollte man einsehen. Die Riester-Rente war ein Flop, man sollte sie rasch beenden. Der Staat wäre im Sinne des Bestandsschutzes verpflichtet, die bestehenden Verträge weiter zu fördern.

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Rundblick: Was sollte die nächste Bundesregierung noch als wichtigste Vorhaben anpacken?
 
Schneider: Wir haben eine gespaltene Gesellschaft, mehr Gleichheit muss das Ziel sein – denn die Erhöhung der Lebensqualität führt zu mehr Gerechtigkeit und zu einem höheren Glücksempfinden der Menschen. Die Grundsicherung von derzeit 446 Euro monatlich liegt zu niedrig, der Paritätische Wohlfahrtsverband spricht sich für 644 Euro aus. Der Sektor der Niedriglöhne muss trockengelegt werden, wir brauchen einen Mindestlohn von 13 Euro, der auch im Alter vor Armut schützt. Außerdem muss es öffentlich geförderte Beschäftigung geben für Menschen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht vermittelbar sind, wo nötig auch sozialarbeiterisch flankiert. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hatte schon ein Programm dazu aufgelegt, allerdings nur in einem bescheidenen Umfang. Die Idee einer Kindergrundsicherung wird von uns nachhaltig unterstützt. Wenn all diese Schritte gegangen werden, kostet das nach unserer Schätzung 25 Milliarden Euro im Jahr – je zur Hälfte zusätzliche Ausgaben und geringere Steuereinnahmen. Das hätte den Effekt, dass niemand mehr unter 60 Prozent des Durchschnittseinkommens rutscht. Für 25 Milliarden Euro im Jahr könnte man also die Armut hierzulande abschaffen.
 
Rundblick: Und wer soll das bezahlen?
 
Schneider: Zunächst haben wir mit Freude wahrgenommen, dass alle relevanten Parteien, die zur Bundestagswahl antreten, die Steuerverwaltung stärken wollen – damit es weniger Menschen als bisher gelingt, Steuern zu hinterziehen und illegale Schlupflöcher zu nutzen. Dann muss natürlich der Spitzensatz der Einkommensteuer angehoben werden. Der dritte Punkt ist die Revitalisierung der Vermögensteuer, der vierte die Transaktionssteuer. Fünftens müssen wir die Erbschaftsteuer in den Blick nehmen. Es geht doch nicht an, dass in Deutschland jährlich zwischen 300 und 400 Milliarden Euro vererbt werden – doch der Ertrag der gegenwärtigen Erbschaftsteuer macht nur rund 7 Milliarden Euro aus. Das ist viel zu gering. Wenn die Steuer nur zehn Prozent ausmachen würde, hätten wir 40 Milliarden – das wäre schon ein großer Fortschritt.

Rundblick: Die Verteidiger der höheren Erbschaftsteuer werden immer mit dem Vorwurf konfrontiert, sie würden die den Eigentümerwechsel in den mittelständischen Betrieben erschweren – und sich damit wirtschaftsfeindlich auswirken…
 
Schneider: Wir als Paritätischer Wohlfahrtsverband haben einen Vorschlag entwickelt, die Betriebsvermögen ganz auszuklammern und klar zwischen dem Betriebs- und dem Privatvermögen zu trennen. Wer aus dem Betrieb einen Gewinn entnimmt und nicht wieder investiert, würde steuerpflichtig. Fließt das Geld wieder in den Betrieb, entfiele die Steuerpflicht.
 
Rundblick: Haben Sie für den Ausgang der Bundestagswahl eine bevorzugte Variante, vielleicht ein rot-rot-grünes Bündnis?
 
Schneider: Wir vertreten unsere Positionen und sagen ganz klar: Geht bitte wählen! Ansonsten sind alle demokratischen Parteien wählbar. Die AfD halten wir nicht für wählbar.