Plant das Land Niedersachsen 47 Jahre nach dem früheren „Radikalenerlass“ eine Neuauflage dieses Extremistenbeschlusses? Vermutungen in diese Richtung hat am Wochenende der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius ausgelöst. Der Politiker, der sich gerade für den Bundesvorsitz der SPD bewirbt, stellte radikale Forderungen zum Umgang mit Mitgliedern extremistischer Parteien im öffentlichen Dienst auf.

Pistorius äußert sich deutlich kritisch gegen den „Flügel“ innerhalb der AfD. – Foto: kw/Archiv

Ausdrücklich bezog er sich auf die Gruppierung namens „Flügel“, zu der auch der Thüringer AfD-Politiker Björn Höcke gezählt wird. In einem Interview mit der „Bild am Sonntag“ sagte Pistorius: „Natürlich dürfen Polizisten Mitglied in einer Partei sein, auch in der AfD. Das gilt aber nicht für den ,Flügel‘, den extremistischen Arm der AfD. Der ,Flügel‘ zeigt offen Fremdenfeindlichkeit, völkische Gesinnung und Nationalismus, äußert sich verfassungsfeindlich. Wer dieses Gedankengut teilt, widerspricht dem Bild, das das Grundgesetz von unseren Richtern, Staatsanwälten, Lehrern, Polizisten oder Finanzbeamten hat. Wer sich offen zum ,Flügel‘ bekennt, dem sollte der Beamtenstatus aberkannt werden.“

Pistorius‘ Vorschlag erinnert an Radikalenerlass

Die Darstellung des Innenministers weckt Assoziationen zum Radikalenerlass, den Bundeskanzler Willy Brandt und die Ministerpräsidenten 1972 vereinbart hatten. Darin war festgelegt, dass Mitglieder extremistischer Organisationen, damals vor allem DKP und NPD, keine Chance auf Verbeamtung im öffentlichen Dienst bekommen sollten – damit sie nicht „den Staat unterwandern“ konnten. Später ist die SPD, und nicht nur sie, deutlich von diesem Beschluss abgerückt, da viele Kommunisten zu Unrecht ein „Berufsverbot“ erlitten hätten.

Heute gelten die Regeln einer Verfassungstreue jedes Beamten und einer politischen Mäßigungspflicht. Wenn jemand wegen Verstoßes gegen diese Grundsätze belangt werden soll, müssen ihm im Einzelfall konkrete Verstöße nachgewiesen werden. Pauschale Verweise auf Mitgliedschaften in Teil-Organisationen reichen nicht. Noch vor sechs Tagen teilte das von Pistorius geführte Innenministerium auf eine Anfrage des Politikjournals Rundblick Folgendes zu diesem Thema mit: Die Verfassungstreuepflicht des Beamten gelte dann nicht als verletzt, wenn es um die schlichte Mitgliedschaft in einer Vereinigung, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, geht. Es müssten „weitere Aktivitäten“ hinzukommen – so herausgehobene Funktionärsämter oder Wahlkreiskandidaturen. Diese Aussage bezog sich indes ausdrücklich auf verfassungsfeindliche Organisationen, und als solche kann weder die AfD noch einzelne ihrer Teile nach bisherigem Recht bezeichnet werden.

Scharfe Kritik von der AfD

Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) verteidigte am Montag die Aussagen von Pistorius, betonte aber: „Das Land bereitet keinen neuen Radikalenerlass vor.“ Er sehe die Antworten des Ministers auch eher mit Bezug auf die Person Höcke in Thüringen.

Das Innenministerium in Hannover erklärte auf Rundblick-Anfrage, man sehe im neuen Interview von Pistorius „keinen Widerspruch zur bisherigen Haltung“. Eine generelle Überprüfung der niedersächsischen Beamten auf eine AfD-Mitgliedschaft und „Flügel“-Nähe sei nicht geplant, wäre auch rechtlich nicht einfach machbar.

Ich halte die Aussagen von Pistorius für skandalös, denn er erklärt gar nicht, warum der ,Flügel‘ verfassungsfeindlich sein soll.

Scharfe Kritik kam vom Vize-Landesvorsitzenden der AfD, dem Landtagsabgeordneten Harm Rykena aus dem Kreis Oldenburg. Er war bis zur Wahl in den Landtag 2017 Konrektor der Grundschule Ahlhorn und bekennt sich heute dazu, dem „Flügel“ in der AfD nahe zu stehen. „Ich halte die Aussagen von Pistorius für skandalös“, sagte Rykena, „denn er erklärt gar nicht, warum der ,Flügel‘ verfassungsfeindlich sein soll“.

Eine ausdrückliche Mitgliedschaft zum „Flügel“ gebe es gar nicht, es bestehe lediglich ein lockerer Verbund. Pistorius greife einzelne Aussagen von AfD-Mitgliedern heraus und sondere daraus absurde Vorwürfe gegen Teile der Partei ab. „Das ist eines Innenministers unwürdig“, betont der AfD-Landesvize.