Die Pandemie hat die großen Unternehmen in Niedersachsen im Corona-Jahr 2020 so hart getroffen wie kaum eine andere Krise zuvor. „Die Wertschöpfung ist sehr deutlich um gut 11 Prozent gesunken. Das ist einer der größten Rückgänge, die wir jemals gemeldet haben. Auch bei der Finanzkrise hatten wir nicht so einen tiefen Einbruch“, berichtet Nord/LB-Chefökonom Christian Lips. Besonders deutlich zeigt sich das am Beispiel von Europas größtem Tourismus-Konzern TUI: Der Reiseanbieter flog coronabedingt komplett aus der aktuellen Rangliste der 50 wirtschaftsstärksten Unternehmen in Niedersachsen, die die Landesbank am Montag vorstellte. Viele Flugzeug- und Fahrzeugbauer rutschten in der Tabelle ab. Die Aufsteiger kommen vor allem aus Gesundheitswesen, Energiesektor und der Agrar-Branche.

Autobau dominiert Wertschöpfung: In den Top 3 der Unternehmen mit der größten Wertschöpfung gibt es keine Veränderungen. Einsame Spitze bleibt der Volkswagen-Konzern mit 49 Milliarden Euro – das sind rund 60 Prozent der Wertschöpfung, die alle 50 Großunternehmen zusammen erwirtschaften. Überhaupt zeigt sich an der Rangliste einmal mehr die große Bedeutung des Fahrzeugbaus für Niedersachsen: Mehr als 70 Prozent der Wertschöpfung der Konzerne kommt aus dieser Branche; weitere 16,8 Prozent steuern die Zulieferer hinzu. Dazu passt, dass auf Platz 2 weiterhin die Continental AG rangiert mit einer Wertschöpfung von 10,86 Milliarden Euro. Dahinter folgt Versicherungskonzern Talanx mit 2,56 Milliarden Euro.

Gesundheit und Agrar gewinnen: „Die Betroffenheit von Corona ist durchaus ungleichmäßig verteilt“, sagt Lips. Während die drei erstgenannten Konzerne im Vergleich zum Vorjahr an Wirtschaftskraft einbüßten, legten andere kräftig zu. Die Dirk Rossmann GmbH steigerte ihre Wertschöpfung um 15 Prozent, Pharmazulieferer Sartorius um 27 Prozent und Energieversorger EWE hat sogar ein Plus von 30 Prozent. Alle großen Klinikbetreiber in Niedersachsen kletterten in der Rangliste nach oben. Ähnlich sieht es im Agrarbereich aus, wo Saatguthersteller KWS, Agravis Raiffeisen, Landhandel Wilhelm Fricke SE und vor allem Nordzucker zu den Aufsteigern gehören. Größte Absteiger sind Elektroakustiker Sennheiser, Zulieferer Faurecia Automotive, die Georgsmarienhütte Holding, Flugzeugbauer Premium Aerotec und Triebwerkswartungsspezialist MTU Maintenance. Neueinsteiger sind die MHH (Position 11) und die Madsack Verlagsgruppe (37), weil sie fürs Nord/LB-Ranking erstmals wieder Angaben zur Verfügung stellten. Die Versicherungsgruppe Concordia (47) und der Einbecker Fahrzeugbauer Kayser (50) sind durch ihren Zuwachs in der Wertschöpfung neu dabei.

Christian Lips, Chefökonom der Nord/LB | Foto: privat

Metall- und Papierbranche büßt Umsatz ein: Im Ranking der 100 umsatzstärksten Unternehmen zeigt sich ein ähnliches Bild wie bei der Wertschöpfung. Der Gesamtumsatz ist um knapp 11 Prozent auf 311 Milliarden Euro gesunken – 223 Milliarden steuert allein VW hinzu. Im Umsatzranking wird die Krise in der Metall- und Chemieindustrie sowie in der Papierbranche besonders deutlich. Die Papierhersteller Felix Schoeller (Osnabrück) und Nordland Papier (Nordenham) rutschten kräftig ab. Und auch Kupferspezialist KME, die Chemiebetriebe H&R und Solvay, Metallverarbeiter Butting, Schienenfahrzeugbauer Alstom sowie Textilgroßhändler CBR Service büßten mehrere Plätze ein. Als Gewinner des Pandemie-Jahres 2020 zeigen sich in dieser Liste außerdem die Baumarktkette Hagebau (Soltau), das Deutsche Milchkontor (Zeven) und der Windenergiehersteller Enercon mit Sitz in Aurich.

Problematisch ist, dass sich die bestehenden Lieferengpässe nicht kurzfristig auflösen lassen.

Thomas Bürkle, Vorstandsvorsitzender Nord/LB

Lieferengpässe bleiben problematisch: „Es gibt keinen Mangel an Auftragseingängen“, sagt Nord/LB-Chef Thomas Bürkle, „nahezu alle Branchen im verarbeitenden Gewerbe sind gerade von Lieferproblemen betroffen – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß“. Den größten Mangel an Vorprodukten gebe es derzeit bei Bekleidung, Automobilindustrie, Maschinenbau, elektrischen Ausrüstungen und Druckerzeugnissen. „Problematisch ist, dass sich die bestehenden Lieferengpässe nicht kurzfristig auflösen lassen“, sagt der Vorstandsvorsitzende und ergänzt: „Allerdings sind wir optimistisch, dass in diesem Jahr ein Aufholprozess stattgefunden hat, der sich hoffentlich auch in der Zukunft weiter fortsetzen wird.“ Laut Nord/LB-Analyst Eberhard Brezski habe Niedersachsen vor allem im ersten Halbjahr 2021 kräftig aufgeholt, sodass das Wirtschaftswachstum zum Ende des Jahres bei über 3 Prozent liegen könnte. Breszki: „Das Jahr 2022 sehe ich durchaus zuversichtlich. Die Unternehmen sind auf einem guten Pfad, auch wenn die Probleme mit Lieferketten anhalten werden.“

Omikron und Inflation gefährden Erholungskurs: In anderen Ländern der Euro-Zone hat sich die Wirtschaft bereits besser erholt. „Deutschland ist das Schlusslicht. Wir haben noch gut ein Prozent bis zum Vorkrisenniveau zu gehen“, sagt Lips und rechnet damit, dass die Bundesrepublik erst im Frühjahr 2022 wieder das Vorkrisenniveau erreicht. „Die Nachfrage läuft ganz gut, aber die Produktion hinkt deutlich hinterher.“ Die Stimmungslage in Industrie und Handel sei allerdings derzeit ziemlich düster: „Mit Öffnung der Wirtschaft gab es fast einen Anflug von Euphorie, davon ist nichts mehr zu spüren. Die Zukunftsaussichten sind so skeptisch wie seit Anfang 2020 nicht mehr.“ Für Verunsicherung sorgen die vierte Welle und die Meldungen über die Omikron-Variante des Coronavirus – aber auch die Entwicklung der Energiepreise und die Inflation, die in den USA mit 6,8 Prozent so hoch ist wie seit 1982 nicht mehr. Für Deutschland sieht Lips mit dem Auslaufen einer Sondereffekte allerdings Hoffnung am Inflationshimmel. „Wir bewegen uns jedoch erst langsam im Jahr 2022 in Richtung des EZB-Ziels von 2 Prozent.“