Nordhorns Neustart: Wie eine Stadt ohne Großindustrie wieder auf die Beine kommt
In den 60er-Jahren war die Textilindustrie für Nordhorn das, was Volkswagen für Wolfsburg darstellt. Bei den drei großen Branchenriesen Nino, Povel und Rawe waren etwa 12.000 Menschen beschäftigt – das entsprach 80 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze der Stadt. Dann durchlief die Textilbranche einen radikalen Strukturwandel, der für die niedersächsischen Spinnereien das Aus bedeutete. Als die Nino AG ihre letzte verbliebene Produktionsstätte im Jahr 1996 schloss, verloren die letzten 1500 Textilbeschäftigten in Nordhorn ihre Jobs. Für die Stadt, die zu dieser Zeit bereits zu den strukturschwachen Regionen des Landes zählte, war das ein weiterer herber Rückschlag. Doch in der Folgezeit gelang Nordhorn eine Trendwende. Aus den ehemaligen Industriebrachen entstanden Wohnanlagen, Gewerbeparks oder Bildungszentren. Trotz der allgemeinen Finanznot der Kommunen ist Nordhorn inzwischen fast schuldenfrei – ohne dabei Straßen, Plätze und andere Verkehrswege vernachlässigt zu haben. Die Stadt gilt als landesweites Vorbild für fahrradfreundliche Infrastruktur. Kein Wunder also, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die niedersächsische Mittelstadt kürzlich in höchsten Tönen lobte. „Nordhorn kann ein Mutmacher für viele andere Orte in Deutschland sein“, sagte das Staatsoberhaupt. Diese Aussage ist nicht übertrieben, denn Nordhorn zeigt: Eine Kommune kann auch ohne riesige Gewerbesteuerzahler, ohne eine Hochschule, ohne einen Touristenmagneten und weit entfernt von der nächsten Metropole aufblühen.
„Alles Schlechte dieser Welt gibt es auch hier ‑ aber von allem viel, viel weniger.“
„Der breite Branchenmix ist unsere Stärke. In Boomphasen stehen wir dadurch zwar nicht ganz oben auf den Listen, in Krisenzeiten aber auch nicht ganz unten. Außerdem haben wir hier viele Unternehmen, die in den guten Jahren bodenständig geblieben sind und Rücklagen gebildet haben“, erklärt Volksbank-Vorstand Gregor Neuhäuser das Geheimnis hinter dem neuen Nordhorner Wirtschaftswunder. Der gebürtige Düsseldorfer lobt die Grafschafter für ihr „unaufgeregtes Selbstbewusstsein“. „Alles Schlechte dieser Welt gibt es auch hier – aber von allem viel, viel weniger“, ergänzt sein Vorstandskollege Andreas Kinser und beschreibt so den Reiz der Region. Größter Arbeitgeber ist die Nordhorner Euregio-Klinik mit mehr als 1500 Beschäftigten, die je zur Hälfte dem Landkreis und der katholischen Kirche gehört. Dahinter folgen die Lebenshilfe mit 850 Beschäftigten und die international tätige Emsland-Group. Diese könnte mit der Verarbeitung von Kartoffeln und Erbsen für die weiterverarbeitende Industrie demnächst die Umsatzmarke von einer Milliarde Euro knacken. Weltweit beschäftigt der Konzern 1200 Mitarbeiter, davon 730 in Emlichheim. In Schüttorf sind der Bau- und Sanitärgroßhändler Arnold-Lammering-Gruppe (660 Beschäftigte) und die auf Kunststoffverarbeitung spezialisierte Utz-Gruppe (550 Beschäftigte) ansässig.
Die Arbeitslosenquote in der Grafschaft Bentheim gehört mit 3,3 Prozent zu den niedrigsten in ganz Niedersachsen. Fachkräftemangel ist deshalb auch in Nordhorn und Umgebung ein Thema. „Wir befinden uns auch hier im Wettbewerb um die jungen Leute, aber wenn man sich als Arbeitgeber attraktiv aufstellt, kann man auch in der Fläche genug Nachwuchskräfte gewinnen“, sagt Volksbank-Co-Vorstand Andreas Kinser. „Wir sind in der Region top aufgestellt und zufrieden. Wir müssen aber aufpassen, dass wir in dieser Zufriedenheit nicht versinken“, warnt er. Die Grafschaft müsse dafür sorgen, weiterhin für Fachkräfte attraktiv zu bleiben. Mit der Einrichtung eines Berufsbildungscampus wollen der Landkreis und die lokalen Wirtschaftsakteure ein weiteres Argument für den Standort Nordhorn schaffen. Dort sollen Zukunftsthemen wie 3D-Druck, Künstliche Intelligenz oder Augmented Reality behandelt werden. Überregionale Strahlkraft könnte vor allem der Fokus auf das Thema Building Information Modelling (BIM) entwickeln. Diese Methode zur digitalen Gebäudeplanung und -bewirtschaftung mittels digitaler Zwillinge gilt zwar als Stand der Technik, wird in der Berufsbildung aber noch oft vernachlässigt.
Die Krise in der Automobilbranche ist in der Grafschaft Bentheim kaum zu spüren, wohl aber die angespannte Lage in der Bauwirtschaft. Das zeigt sich nicht nur an der Anfang November verkündeten Insolvenz der Nordhorner Firma Gussek-Haus, die auf Fertighäuser spezialisiert war und 330 Mitarbeiter entlassen muss. Auch Unternehmen aus der Region beobachten, dass die Einwohnerzahl schneller wächst als das Wohnraumangebot. Mittlerweile hat Nordhorn sogar Langenhagen und Lingen überholt und rangiert mit 55.700 Einwohnern auf Platz 15 der größten Städte Niedersachsens. Dieses rasche Wachstum bringt jedoch Probleme mit sich. Laut einer Umfrage der Wirtschaftsvereinigung Grafschaft Bentheim haben neue Fachkräfte Schwierigkeiten, passenden Wohnraum in der Region zu finden. 81 Prozent der Unternehmen unterstützen ihre Beschäftigten mittlerweile bei der Wohnraumsuche, und 23 Prozent stellen sogar eigenen Wohnraum zur Verfügung.
Für Bürgermeister Thomas Berling (SPD) bringt der Bevölkerungszuwachs eine weitere Herausforderung mit sich. „Als ich vor 13 Jahren das Amt übernommen habe, standen drei Grundschulen kurz vor der Schließung. Jetzt sind alle Schulen voll. Der Ausbau des Ganztagsbereichs wird uns noch viele Jahre beschäftigen“, sagt Berling. Neben der Schulentwicklung und dem Wohnungsbau stehen auch der Ausbau der Kinderbetreuungsplätze und das Schließen der letzten Mobilfunklöcher weit oben auf der To-Do-Liste des Nordhorner Stadtoberhaupts. Die wohl größte Baustelle seiner Amtszeit kann Berling jedoch fast abhaken: den Schuldenabbau. 2010 zählte Nordhorn mit 60 Millionen Euro Schulden noch zu den finanziell angeschlagensten Kommunen des Landes. Inzwischen verkündet der Bürgermeister: „Wir haben zwar noch Schulden, aber wir zahlen keine Zinsen mehr.“ Möglich wurde dies durch einen Ratsbeschluss, der jährliche Tilgungen von 500.000 Euro vorschreibt, sowie durch ein kontinuierlich wachsendes Gewerbesteueraufkommen. „Die Wirtschaft ist sehr breit aufgestellt. Nordhorn hat einen sehr starken Mittelstand“, freut sich das Stadtoberhaupt.
„Die Reaktivierung der Strecke nach Bad Bentheim hat uns enorm viel gebracht. Wir merken, dass wir zurück auf der Landkarte sind.“
Den Strukturwandel der Stadt betrachtet Berling als abgeschlossen. „Wir haben praktisch alle Industriebrachen gereinigt und einer neuen Nutzung zugeführt“, berichtet der Bürgermeister. Übrig ist nur noch eine letzte Restfläche auf dem ehemaligen Nino-Gelände, die sich der Zoll gesichert hat und ab 2027 bebauen will. Bis dahin könnte auch am Stadtrand ein weiteres Großprojekt starten: Die Bentheimer Eisenbahn plant den Bau eines multifunktionalen Umschlagzentrums. „Wir wollen damit schienenaffine Produkte von Firmen aus einem Umkreis von 75 Kilometern auf die Gleise bringen“, sagt Geschäftsführer Joachim Berends. Mehrere Unternehmen, die gerne vom Lastwagen auf den Güterzug umsteigen würden, stehen schon in den Startlöchern. Für die Wirtschaftsregion könnte das 10-Millionen-Euro-Projekt einen ähnlich positiven Effekt haben, wie die Wiedereröffnung des Nordhorner Bahnhofs. „Die Reaktivierung der Strecke nach Bad Bentheim hat uns enorm viel gebracht. Wir merken, dass wir zurück auf der Landkarte sind“, sagt Bürgermeister Berling. Sichtbar wird das vor allem im Tourismusbereich. Nicht nur gegenüber dem Bahnhof soll ein komplett neues Vier-Sterne-Hotel entstehen. Auch das Hotel Riverside, in dem der Bundespräsident bei seinem Nordhorn-Besuch residierte, plant einen Anbau mit zusätzlichen Zimmern und Wellnessbereich.
Vergangene Woche überreichte Wirtschaftsminister Olaf Lies an Berends zudem den Förderbescheid für die Reaktivierung der Bahnstrecke von Neuenhaus über Emlichheim ins niederländische Coevorden. Damit wird Nordhorn ab Ende 2026 eine Direktverbindung in seine Partnerstadt jenseits der Grenze haben, die perspektivisch bis nach Groningen verlängert werden könnte. Klaas Johannink, Chef der Wirtschaftsvereinigung Grafschaft Bentheim, hofft aber auch in der anderen Richtung auf einen Schienenausbau. „Wir würden es sehr begrüßen, wenn es über die Bentheimer Kurve eine direkte überregionale Anbindung nach Osnabrück geben würde“, sagt der Geschäftsführer des Kunststoffherstellers Ringoplast aus Ringe. „Besonders Güterzüge könnten rascher und kostengünstiger als zuvor in Richtung Nordhorn eingefädelt werden“, erklärt Berends. Vom Grafschafter Kreisausschuss ist sein Unternehmen bereits mit entsprechenden Planungen beauftragt worden, überregional ist der schnellere Anschluss nach Osnabrück allerdings noch kein Thema.
Dieser Artikel erschien am 27.11.2024 in der Ausgabe #210.
Karrieren, Krisen & Kontroversen
Meilensteine der niedersächsischen Landespolitik
Jetzt vorbestellen