Der linke Flügel hält bei den niedersächsischen Grünen weiter die Fäden in der Hand – trotz des betont bürgerlichen Auftretens der neuen Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock. Deutlich wurde das bei der Aufstellung der Landesliste für die Bundestagswahl an diesem Wochenende. In Oldenburg waren fast alle Bewerber für die Liste angereist, während die knapp 270 Delegierten nur per Video von ihren heimischen Wohnzimmern zugeschaltet waren und dort abstimmten.

Was das Spitzenduo für Niedersachsen anging, lieferten sich die Grünen Kampfabstimmungen. Auf Position 1 siegte die Volkswirtschaftlerin Fiiz Polat (42) aus dem Kreis Osnabrück, die im Bundestag den Fachbereich Migration und Integration betreut, über ihre Fraktionskollegin, die gleichaltrige Umweltwissenschaftlerin Julia Verlinden aus Lüneburg. Verlinden hatte 2017 noch die Landesliste angeführt. Die beiden Kandidatinnen werden dem linken Flügel zugerechnet.

Filiz Polat und Sven-Christian Kindler mit Parteichefin Anne Kura am Sonnabend in Oldenburg – Foto: kw

Auf Platz zwei gewann mit 141 zu 119 Stimmen der hannoversche Bundestagsabgeordnete Sven-Christian Kindler (36) gegen den früheren Landes-Umweltminister und Landtagsabgeordneten Stefan Wenzel (59) aus dem Kreis Göttingen. Gerade diese Entscheidung gilt als richtungsweisend: Kindler ist ein ausgewiesener Befürworter einer Kooperation mit SPD und Linkspartei, während Wenzel dem „Realo“-Flügel zugeordnet wird, der im Zweifel eher eine Zusammenarbeit mit der CDU als mit der Linken befürworten würde. Erst auf Rang zehn konnte Wenzel sich dann durchsetzen.

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Ist das nun ein Linksrutsch bei den Grünen – oder eher die Bestätigung eines ohnehin seit Jahren festen linken Trends im niedersächsischen Landesverband? Beides wohl nicht, vielmehr spricht das Resultat für den verzögerten Wandel in Richtung Bürgerlichkeit. Wie bundesweit, so wächst auch bei Niedersachsens Grünen die Mitgliederzahl – stark auch um solche Leute, die einen Winfried Kretschmann gut finden und offen für Schwarz-Grün sind. Aber in den Delegiertenzahlen zeichnet sich diese Verbreiterung noch nicht ab.

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Im Vorfeld der Tagung hatte es eine interne Absprache im linken Lager der Grünen gegeben, was Platz zwei angeht: Jürgen Trittin (66), der Altvordere der Grünen, verzichtete zugunsten von Kindler, dafür sollte Trittin unumstritten auf Platz vier antreten. Doch Wenzel, getragen von den Realos, wollte diesen Vorab-Deal durchkreuzen und forderte überraschend Kindler heraus, sehr zu Verwunderung vieler Parteifreunde.

In den Vorstellungsreden der beiden wurden die Unterschiede deutlich: Kindler sprach über den Umbau des Wirtschaftssystems und attackierte den „Fetisch schwarze Null“. Wenzel hingegen, der auch ein Haushaltspolitiker ist, konzentrierte sich auf die Umwelt- und Klimaschutzpolitik, fügte aber noch einen bemerkenswerten Satz an: „Habeck und Baerbock sprechen auch die an, die noch zögerlich sind und die in den Grünen nicht von vornherein die besseren Menschen sehen.“

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In der unmittelbar folgenden Befragung der Delegierten gab es noch eine kritische Anmerkung zu Kindler, der angeblich den Kontakt nur zu bestimmen Mitgliedern suche und gegenüber Kritikern in eigenen Reihen nicht offen agiere. Kindler ging auf die Vorwürfe in seiner Antwort allerdings nicht ein, musste aber ein Bekenntnis zu mehr Zusammenarbeit abgeben.

Habeck und Baerbock sprechen auch die an, die noch zögerlich sind und die in den Grünen nicht von vornherein die besseren Menschen sehen.

Bei der anschließenden Wahl war der Stimmenunterschied zwischen Kindler und Wenzel nicht sehr groß, und das wiederum heizte Spekulationen an. So ging während der Grünen-Versammlung die Sorge durch die Reihen der in Oldenburg anwesenden Kandidaten, es könne noch zu Überraschungen kommen – etwa gegenüber vielen älteren Bewerbern, die angetreten waren.

Für Platz vier kandidierte Trittin ohne Gegenkandidaten, erntete aber 56 Enthaltungen bei 197 Ja-Stimmen. Auf Platz sechs sollte als Neueinsteiger der frühere Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske eigentlich als einziger Kandidat antreten, er hatte auch die Rückendeckung des Bundesvorstandes.

Aber dann meldete sich überraschend die hannoversche Psychotherapeutin Baukje Dobberstein (42), eine überzeugte Anhängerin des bedingungslosen Grundeinkommens. Zwar bekam sie am Ende nur 50 Stimmen, verhinderte aber einen grandiosen Sieg von Bsirske, der 185 Stimmen auf sich vereinigen konnte. 24 Delegierte enthielten sich. Immerhin wird Bsirske dem Realo-Lager zugerechnet, das bei den Abstimmungen über die ersten 15 Plätze auf der Liste klar in der Minderheit blieb.

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Ein anderer Vertreter des Realo-Lagers, der Hildesheimer Bundestagsabgeordnete Ottmar von Holtz (59), fiel bei Platz acht durch, er unterlag dem bisherigen Parlamentarischen Geschäftsführer der Landtagsfraktion, Helge Limburg (38) aus Holzminden. Auch Limburg wird formell den Linken zugeordnet, obwohl er ein Pragmatiker ist.

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Und Wenzel selbst, der auf Platz zwei knapp gescheitert war? Er, ein bekennender Realo, versuchte es später erst wieder auf Rang 10 – mit Erfolg. Dort kam er auf 134 Stimmen gegenüber 113 Stimmen für von Holtz.

Das dürfte nun zwar allemal reichen für den Einzug von Wenzel in den Bundestag, ist aber trotzdem ein merkwürdiges Signal. Wenzel, der lange Zeit Chef der Landtagsfraktion war, Spitzenkandidat zu Landtagswahlen und auch Vize-Ministerpräsident, erhält hier lediglich Platz zehn – und das auch nur mit einem knappen Resultat. Das spricht nicht gerade für einen vorbildlichen Umgang der Grünen mit ihren eigenen Leistungsträgern.

Videobotschaft der Kanzlerkandidatin

Noch dazu gibt es Spekulationen, die Absicherung der wenigen Realos auf der Liste sei auch nur deshalb möglich gewesen, weil der Realo-Flügel wenige Monate vor der Bundestagswahl auf eine innerparteiliche Kraftprobe verzichtet hat: Eine eigentlich lange geplante Kampfkandidatur bei der Neuwahl der Landesvorsitzenden Mitte Juni ist abgeblasen worden, da der Realo-Bewerber seine Bereitschaft um des innerparteilichen Friedens willen zurückgezogen hatte. Nur so, heißt es, sei die linke Delegiertenmehrheit bereit gewesen, wenigstens ein paar wenige Realos auf den aussichtsreichen Listenplätzen zu verankern.

Zu Beginn der Aufstellungsversammlung war eine speziell an die niedersächsischen Delegierten gerichtete Video-Botschaft der Kanzlerkandidatin eingespielt worden. Darin erinnerte Annalena Baerbock an einen Grünen-Bundesparteitag vor 16 Jahren an diesem Ort, in Oldenburg, als es um den Abschied von Rot-Grün von der Macht gegangen sei. In jenem Jahr habe sie sich dieser Partei angeschlossen.

https://twitter.com/gruenelvnds/status/1398203736841916416

Nun, ebenfalls von Oldenburg aus, solle das gegenteilige Signal gesandt werden: Es gehe um den Endspurt zur Regierungsverantwortung unter neuen Vorzeichen – auch in Niedersachsen. So könne die Politik dafür sorgen, dass mit Wasserstoff in Salzgitter hergestellter Stahl bei der VW-Produktion in Wolfsburg eingesetzt wird.

Baerbock lobte die auf sozialen Ausgleich und Verständigung ausgerichtete Kommunalpolitik von Hannovers OB Belit Onay und Osnabrücks Landrätin Anna Kebschull. Sie sprach von ihrem Heimatort, Schulenburg bei Pattensen, und von ihrem Schwimmunterricht im benachbarten Dorf Jeinsen. Solche Angebote, die sie als Kind noch nutzen konnte, seien mittlerweile selten geworden – und das zeuge von den Versäumnissen der Politik der Großen Koalition.

https://twitter.com/gruenelvnds/status/1398555615555993604

Die Grünen-Landesvorsitzende Anne Kura erklärte, ein Erfolg bei der Bundestagswahl könne der Partei im Landtagswahlkampf einen kräftigen Schub geben. Nach den Worten von Kura zeichne die Regierung von SPD und CDU in Niedersachsen „Zögern und Zaudern“ aus. Das gelte nicht nur im Corona-Krisenmanagement, sondern auch für den Klimaschutz. „Das wird dann nach der Landtagswahl ein Ende haben“, kündigte Kura an. (kw)