Am Sonnabend ist es genau 30 Jahre her, dass die fünf neuen Länder, die aus der DDR hervorgegangen sind, ein Teil der Bundesrepublik Deutschland wurden. Jahrelang sind Steuergelder in den „Aufbau Ost“ gesteckt worden. Jetzt stellt sich die Frage: Ist 30 Jahre nach der Wiedervereinigung eine besondere Unterstützung des Westens für den Osten nötig? Die Rundblick-Redaktion streitet darüber in einem Pro und Contra.

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PRO: Der „Aufbau Ost“ besteht aus mehr als nur Steuererleichterungen, Investitionshilfen und Planungsbeschleunigungen. Es geht um die Aufgabe, die vor 30 Jahren in die Bundesrepublik aufgenommenen Länder zu fördern und im besten Sinne des Wortes zu „integrieren“. Diese Aufgabe ist noch lange nicht abgeschlossen, meint Klaus Wallbaum.

Es gibt momentan noch sehr viele Missverständnisse, die durch die politische Debatte geistern und gern ungeprüft weitergetragen werden. Das eine lautet, „der Westen“ habe massenhaft Geld in die neuen Länder geschleust und dort Gebiete aufgepäppelt, während einige Städte im Westen, etwa im Ruhrgebiet, verödet seien. Das stimmt nicht. Den Solidaritätsbeitrag leisten alle, nicht nur die Westdeutschen. Ja, es ist richtig, von den Einnahmen wurden über den „Solidarpakt“ Vorhaben im Osten unterstützt.

Aber die Annahme, dieser „Aufbau Ost“ habe allein der Stärkung von Infrastruktur und Wirtschaftskraft in den neuen Ländern gedient, ist auch ein Missverständnis. Tatsächlich handelte es sich um einen Akt der innerstaatlichen Solidarität, der weit über das wirtschaftliche und materielle hinausgeht: Der reichere Teil zeigt sich verantwortlich für den ärmeren, der Starke hilft dem Schwachen.

Es muss darum gehen, die Zivilgesellschaft zu unterstützen – das Vereinsleben in den Dörfern, die Fähigkeit zur strukturierten Willensbildung in den Kommunen, das Angebot an Bildung und Fortbildung in den Regionen.

Zu Recht wird jetzt eingewandt, dass die Angleichung der Lebensverhältnisse, eine vom Grundgesetz vorgegebene Aufgabe, in vielen Gegenden Ostdeutschlands längst erreicht sei. Wer nach Dresden, Leipzig, Potsdam oder viele mittlere Städte schaut, sieht dort längst die „blühenden Landschaften“, die Helmut Kohl einst versprochen hat. In einigen Gegenden des Westens jedoch herrscht hingegen Tristesse. Das ist die materielle Seite, und Rufe nach einer stärkeren Differenzierung der finanziellen Förderung sind daher auch angemessen. Wenn künftig benachteiligte Regionen besonders unterstützt werden sollen, dann muss ein Maßstab her, der westliche Gebiete ebenso berücksichtigt wie östliche.


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Aber mit „Aufbau Ost“ sollte eben noch etwas anderes gemeint sein, nämlich die Unterstützung des Westens für den Osten beim großen Thema eines Aufbaus und einer Stärkung der demokratischen Ordnung. Das muss kein staatliches Förderprogramm sein, kann aber durchaus staatliche Förderungen bedeuten. Es muss darum gehen, die Zivilgesellschaft zu unterstützen – das Vereinsleben in den Dörfern, die Fähigkeit zur strukturierten Willensbildung in den Kommunen, das Angebot an Bildung und Fortbildung in den Regionen.

Es war kein Abkommen zweier gleichstarker, gleichberechtigter Staaten, das 1990 geschlossen wurde.

Das ist auch deshalb nötig, weil nach einer Umfrage für die Konrad-Adenauer-Stiftung im Februar 28 Prozent der Ostdeutschen angegeben haben, mit der Demokratie unzufrieden zu sein – im Vergleich zu 15 Prozent im Westen, also fast doppelt so viele. Soll man jetzt über die Undankbarkeit der Ostdeutschen klagen, die all die positiven Veränderungen in ihrem Land in den vergangenen drei Jahrzehnten nicht zu schätzen wissen? Oder über Spätfolgen einer vom autoritären Charakter geprägten Gesellschaft im Osten, die bis 1989 immerhin über 56 Jahre lang keine Erfahrung mit der Demokratie sammeln konnte – damit auch keine Erfahrung in der Streitkultur und im Kompromiss?

Solche Thesen mögen ihre Berechtigung haben, klammern aber einen ganz wesentlichen Aspekt aus, der konstitutionell war für das, was heute „Wiedervereinigung“ genannt wird: Es war kein Abkommen zweier gleichstarker, gleichberechtigter Staaten, das 1990 geschlossen wurde – es war der Beitritt der neuen Länder zur Bundesrepublik, festgelegt von der DDR-Volkskammer zu einem Zeitpunkt, an dem diese fünf neuen Länder noch gar nicht existierten.

Erste Vorschläge der DDR-Unterhändler, über die erst jüngst wieder der damalige Verhandlungsführer Günther Krause erzählte, wurden von der westdeutschen Seite vom Tisch gewischt. Die maßgeblichen Akteure der Bundesrepublik zu jener Zeit hatten weder damals noch später das Interesse, als ihren Beitrag zur Einheit irgendeine wesentliche Veränderung ihrer Rechtsordnung zuzugestehen – mal abgesehen vom Abtreibungsrecht, das sich durch die Ost-Erweiterung der Bundesrepublik schon mittelfristig veränderte, also liberalisierte.

Hand aufs Herz: Noch zu vielen Westdeutschen sind die Ostdeutschen schlichtweg egal.

Wer nach den Gründen für die stärkeren Vorbehalte der Ostdeutschen gegenüber den politischen Repräsentanten des Staates fragt, nach den Gründen für die höhere Anfälligkeit gegenüber radikalen politische Positionen oder auch nach den Gründen für stärkere Kritik an der Zuwanderung, die von der Bundesregierung befürwortet wird, landet früher oder später auch an diesem Stockfehler aus der Zeit der Wiedervereinigung: Die Ostdeutschen waren eben tatsächlich damals die „Angeschlossenen“. Dass Konzernzentralen im Westen liegen, die meisten Führungspersonen in der Wirtschaft Westdeutsche sind und in höchsten bundesdeutschen Gerichten auch heute, 30 Jahre danach, nur vereinzelt ostdeutsche unter einer Masse westdeutscher Juristen sitzen, gibt jenen Nahrung, die heute noch über „Fremdbestimmung“ klagen.

Da hilft der Hinweis auf die lange Kanzlerschaft der ostdeutschen Angela Merkel und die starken Auftritte des ostdeutschen Joachim Gauck als Bundespräsident nur wenig. Denn beide, Merkel wie Gauck, waren und sind ja fest eingebunden in eine westdeutsch geprägte Umgebung. Das alles muss nicht schlimm sein, es hat im Gegenteil über lange Zeit für gute politische Ergebnisse gesorgt. Aber daraus folgt eben die Verpflichtung, weiterhin aktiv zu sein für einen „Aufbau Ost“ – mehr als politische Verpflichtung denn als finanzielles Zuschussprogramm. Nämlich als eine Form der Anteilnahme. Hand aufs Herz: Noch zu vielen Westdeutschen sind die Ostdeutschen schlichtweg egal.

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CONTRA: Während die Politik immer stärker in Fördertöpfen denkt und mittlerweile sogar schon vielen Unternehmern jede Form von Eigenverantwortung aus den Köpfen gefördert hat, muss gerade der Osten, der sich vor über 30 Jahren seine Freiheit erkämpft hat, diese Freiheit jetzt auch annehmen. Er braucht keine Westpakete mehr, meint Martin Brüning.

Wie sieht eigentlich eine blühende Landschaft aus? Und was genau sind die berühmten gleichwertigen Lebensverhältnisse? Der sogenannte Aufbau Ost ist von Beginn an von Missverständnissen geprägt gewesen. Schon als Helmut Kohl am 1. Juli 1990 davon sprach, dass es „durch gemeinsame Anstrengung“ gelingen werde, die östlichen Bundesländer „in blühende Landschaften“ zu verwandeln, wussten nur diejenigen, die sich nach dem Sturz der Mauer auf der anderen und bis dahin kaum zugänglichen Seite genauer umgesehen hatten, dass dies kein wirtschaftlicher Spaziergang von ein paar Jahren werden würde. Zu groß waren die Schäden, die erst der Krieg und dann der Sozialismus auf dem Gebiet der ehemaligen DDR angerichtet hatten. In so manchen Straßen konnte man sich noch 1990 sehr genau vorstellen, wie es dort in den 50er Jahren ausgesehen hatte.

Auch das Ziel der gleichwertigen Lebensverhältnisse nährte bei manchen die Vorstellung, dass man in Waren an der Müritz bald so wohlhabend sein könnte wie am Starnberger See und das die Region Halle mit dem Hochtaunuskreis mithalten könnte. Aber auch 30 Jahre nach der Einheit ist Bautzen nicht das neue Baden-Baden – und dennoch kann man von gleichwertigen Lebensverhältnissen sprechen, wenn man auf Grundinfrastruktur, Gesundheitsvorsorge oder Bildungsmöglichkeiten schaut.

Seit Jahrzehnten schaut man im ehemaligen „Westdeutschland“ mit leichtem Argwohn auf die Milliarden, mit denen in Ostdeutschland Autobahnen gebaut und Innenstädte saniert werden.

Der Aufbau Ost war nie unumstritten, seit Jahrzehnten schaut man im ehemaligen „Westdeutschland“ mit leichtem Argwohn auf die Milliarden, mit denen in Ostdeutschland Autobahnen gebaut und Innenstädte saniert werden. Nach wie vor lässt sich nur schwer quantifizieren, wie hoch die Kosten der Einheit bisher genau waren. Die Zahlen bleiben vage und das liegt nicht nur daran, ob man die Förderung in brutto, oder nach Abzug von Rückflüssen wie Steuern und Sozialbeträgen in netto versucht, auszurechnen, ob man die Kosten für Renten- und Sozialversicherung hinzuzieht oder auch die Zahlungen, die die Ostdeutschen selbst für den Aufbau geleistet haben, von der Summe abzieht. Klar ist aber: Wir sprechen von Billionen.

Ist zu viel oder zu wenig Geld geflossen? Das wird man in Falkensee bei Berlin, in Cottbus oder im Duisburger Problem-Stadtteil Marxloh wohl sehr unterschiedlich beurteilen. Aber schon vor 20 Jahren bekam der Rechtssoziologe Thomas Roethe mit seinem Buch „Arbeiten wie bei Honecker, leben wie bei Kohl“ vor allem im Westen Beifall, in dem er beschrieb, wie „arbeitslose Wittenberger“ im Eiscafé sitzen und dabei gerne zuschauen, wie polnische Arbeiter den Marktplatz neu pflastern. Die Verteidiger der Ostdeutschen warfen dem Westen dagegen vor, sich wie eine Besatzungsmacht aufzuführen.

Statt der Finanzierung der Einheit diente der Soli als Ersatz für eine sogenannte Reichensteuer damit zuletzt nur noch als eine Art Gerechtigkeitssymbol.

Inzwischen sind das Kämpfe von gestern, vermutlich auch, weil der starke wirtschaftliche Aufschwung der vergangenen Jahre für volle Kassen sorgte und es gar nicht mehr so genau auffiel, in welche Richtungen all die Milliarden flossen. Deutschland machte das, was es am besten kann: Debatten verschieben, in dem man erst einmal eine Kommission zur Frage der gleichwertigen Lebensverhältnisse einsetzte, natürlich mit sechs Fachgruppen – von Kommunale Altschulden bis Teilhabe und Zusammenhalt. Und bei der Abschaffung des Soli wurde wieder ein Kompromiss hingemurkst. Statt ihn 30 Jahre nach der Einheit einfach komplett abzuschaffen, wurden zehn Prozent weiter zur Solidarität verpflichtet – statt der Finanzierung der Einheit diente der Soli als Ersatz für eine sogenannte Reichensteuer damit zuletzt nur noch als eine Art Gerechtigkeitssymbol.

Sinnvoller wäre es gewesen, den Aufbau Ost damit offiziell abzuschließen und den Osten in eine eigene und freie Zukunft ziehen zu lassen.

Sinnvoller wäre es gewesen, den Aufbau Ost damit offiziell abzuschließen und den Osten in eine eigene und freie Zukunft ziehen zu lassen. Denn auch in den fünf ostdeutschen Bundesländern gibt es genügend selbstbewusste Menschen, die nicht mehr als Bittsteller des Westens gesehen werden möchten. „Ein Plädoyer für das Ende der Schonfrist“, so lautet die Titel-Unterzeile von Thomas Roethes Buch. Während die Politik immer stärker in Fördertöpfen denkt und mittlerweile sogar schon vielen Unternehmern jede Form von Eigenverantwortung aus den Köpfen gefördert hat, muss gerade der Osten, der sich vor mehr als 30 Jahren seine Freiheit erkämpft hat, diese Freiheit jetzt auch annehmen.

Er braucht keine Westpakete mehr. Im ehemaligen Westen wiederum ist eine Generation herangewachsen, die nicht versteht, warum abseits aller großen Probleme, die es seit Jahrzehnten auch in westdeutschen Städten gibt, überhaupt ein Milliardentransfer in Richtung Ostdeutschland nötig sei soll. Diese jungen Menschen finden Leipzig spannender als Oldenburg und Potsdam interessanter als Göttingen. Das zeigt auch, welche Chancen im Osten liegen. Hilfe aus dem Westen ist dafür nicht mehr nötig.

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