Heute vor einem Jahr starb der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog. Seine berühmteste Rede hielt er 1997. „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen“, sagte Herzog damals. Braucht Deutschland zu  Beginn dieses Jahres erneut eine Ruck-Rede? Lesen Sie dazu ein Pro & Contra von Klaus Wallbaum und Martin Brüning.

Pro & Contra: Klaus Wallbaum (li.) & Martin Brüning – Foto: isc

PRO: Gute Politik unterscheidet sich vom bloßen Verwalten dadurch, dass sie Veränderungen anpackt und durchzieht – entschlossen, beharrlich und planvoll. Dazu sind Gardinenpredigten, auch wenn sie zunächst nicht auf Wohlwollen, sondern Skepsis stoßen, unerlässlich, meint Klaus Wallbaum.

Jeder wird Roman Herzog, der vor einem Jahr verstarb, mit der „Ruck-Rede“ in Verbindung bringen. Dabei war der siebente deutsche Bundespräsident kein ständiger und unablässiger Mahner und Antreiber der Demokratie. Er hat, wie es sich für einen guten Juristen gehört, seine öffentlichen Beiträge dosiert und gezielt eingesetzt. Zwei Dinge allerdings treffen schon zu: Herzog hielt den Deutschen immer wieder gern einen Spiegel vor, in dem Versäumnisse, Nachlässigkeiten und negative Verhaltensweisen sichtbar wurden – und er tat es in einer Sprache, die jeder gut verstehen konnte. Ein Volkspräsident also, einer, der sich in gewisser Distanz zum System der Etablierten fühlte – auch wenn er dazu gehörte. Später hat Joachim Gauck es ihm gleichgemacht, wenn auch mehr in der Form des Predigers. Vor Herzog war es Richard von Weizsäcker, der ähnlich agierte, wenn auch mehr in der Form des Professors.

Ob wir Typen wie Herzog brauchen, ist eine wichtige Frage. Eine andere lautet, ob wir „Ruck-Reden“ nötig haben, das regelmäßige Aufrütteln oder Wachrütteln durch einen hochgestellten Politiker, idealerweise das Staatsoberhaupt. Oder verpuffen derartige Ansprachen im Tagesgeschäft, werden sie nicht richtig ernst genommen? Die Gefahr besteht, denn jeder, der eine „Ruck-Rede“ halten will, sollte sich über seine Wirkung bewusst sein. Roman Herzog war eine Autorität, nicht nur wegen seines Amtes, sondern wegen seiner persönlichen Reputation, die er schon vor seinem Einzug in das Schloss Bellevue hatte. Einem wie ihm hat man abgenommen, dass er es ernst meint – und seine Worte hatten vermutlich deshalb auch Wirkung. Es wäre übertrieben zu meinen, nach einer gelungenen „Ruck-Rede“ würden die Politiker im Bundestag und in den Landtagen, in den Bundes- und Landesregierungen auf einmal ihren Kurs ändern und plötzlich große Reformbereitschaft zeigen. Das war auch nach Herzogs Rede im April 1997 so nicht der Fall. Aber, die Ansprache verbreitete sich trotzdem. In Parteien, Verbänden und Gewerkschaften, an den Stammtischen und in den Kommentarspalten der Zeitungen wurde Herzog auf einmal zitiert. Es begann somit eine breite öffentliche Diskussion über die Frage, ob die Gesellschaft gesättigt ist und Reformen benötigt.

Einer wie Herzog, der mit einer „Ruck-Rede“ den Anstoß zu Reformen gibt, ist heute vielleicht nötiger denn je

Gut, es hat dann noch gedauert damals. Ein Jahr nach der Rede begann die erste rot-grüne Bundesregierung, die alles andere als reformerisch in Herzogs Sinne wirkte. Aber dieselben Akteure erkannten einige Jahre später, wie Recht der Bundespräsident damals hatte – und starteten Arbeitsmarktreformen, die noch heute international als mutig und vorbildlich, von einigen allerdings auch als zu weitgehend eingestuft werden. Wäre ohne Herzogs Worte von 1997 die Agenda 2010 denkbar gewesen? Vielleicht schon. Aber ohne die „Ruck-Rede“ hätte es vielleicht länger gedauert und wäre schwieriger gewesen, da das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Veränderungen vorher nicht bestanden hat oder nicht groß genug war. Eine gute Ansprache, die das Herz der Zuhörer erreicht, kann einen Domino-Effekt auslösen – sie wird weitergetragen und wieder weitergetragen, entfacht Diskussionen, weckt auch Widerworte und setzt sich damit in den Köpfen fest.

In einem demokratischen System wie in Deutschland, das auf den Ausgleich verschiedener Interessen und Ansprüche beruht, ist die Gefahr einer Erstarrung in der Routine einfach zu groß. Für viele Kräfte ist es das Bequemste, an der bisherigen gewohnten Kräfteverteilung und Ordnung wird festgehalten. Der Stil der Kanzlerin, die moderiert und zusammenführt statt provoziert und die Richtung vorgibt, fällt dies besonders auf. Einer wie Herzog, der mit einer „Ruck-Rede“ den Anstoß zu Reformen gibt, ist heute vielleicht nötiger denn je. Es wäre Aufgabe des Bundespräsidenten, aber Frank-Walter Steinmeier ist leider kein Typ wie Herzog, seine Rhetorik ist zu sehr in der langen diplomatischen Zeit im Auswärtigen Amt abgeschliffen worden.

Aufbruch zu neuen Reformen aber braucht Deutschland wie damals vor gut 20 Jahren. Wenn es um die die Zukunftstechnologien, um neue Investitionen, um die Veränderungen der Arbeitswelt und um die Rolle des Landes in Europa geht – überall wäre eine neue mutige Ansage vonnöten, ein Aufbruchsignal, das sich vom schlichten „Weiter so“ abhebt. Eine große Rede allein kann das nicht leisten. Aber ohne immer wieder vorgetragene Ansprachen, die in diese Richtung gehen, wird der Mentalitätswandel eben auch nicht gelingen.

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„Durch Deutschland muss ein Ruck gehen“, sagte Roman Herzog am 26. April 1997 – Foto: Bundespräsidialamt

CONTRA: Die jungen Ruck-Forderer von 1997 sitzen inzwischen mit der Kleinfamilie im Eigenheim. Ein neuer Ruck aus dem Reihenhaus? Wer sollte das glaubwürdig fordern?, fragt Martin Brüning.

Die Rede, die Roman Herzog am 26. April 1997 im Berliner Nobel-Hotel Adlon hielt, war gleich in zweierlei Hinsicht historisch. Sie war die erste der „Berliner Reden“ eines Bundespräsidenten, und sie traf mit der Forderung nach einem Ruck den Nerv der Zeit. Auf dem Land lag nach 15 Jahren Kanzlerschaft von Helmut Kohl politischer und wirtschaftlicher Mehltau. Der Dax stieg, aber die Zahl der Arbeitslosen ebenso. Das Bildungssystem wurde in Frage gestellt, die Sozialsysteme galten als nicht zukunftsfähig, die Vergreisung der Gesellschaft wurde zunehmend als großes Problem wahrgenommen. Von einer „resignierenden Unlust“ schrieben in den 90er-Jahren sieben Autoren in einem Manifest, darunter ZEIT-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff, der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt und der damalige Daimler-Vorstandsvorsitzende Edzard Reuter. Die Bürger seien frustriert, Regierung wie Opposition ohne Elan und ohne Vision.

Und heute? 20 Jahre später ist Deutschland nicht mehr der kranke Mann Europas, sondern strotzt geradezu vor Gesundheit. Die Wirtschaft brummt, Börsenexperten erwarten für den DAX neue Rekordstände, aber die Arbeitslosigkeit ist zugleich auf einem Rekord-Tief. Fachkräfte sitzen nicht bei der Arbeitsagentur, sondern werden verzweifelt gesucht. Die Zahl der Abiturienten und Studenten steigt, Krankenkassen freuen sich über Rekordeinnahmen und die Rente scheint irgendwie immer noch sicher – einigermaßen zumindest. Die jungen Ruck-Forderer von damals sitzen inzwischen mit der Kleinfamilie im Eigenheim und freuen sich über das letzte Weihnachtsgeld. Ein neuer Ruck aus dem Reihenhaus? Wer sollte das glaubwürdig fordern?

Statt „German Angst“ wird es eine „German Adaption“ geben müssen, und die geschieht nicht durch einen Ruck, sondern durch sukzessive Veränderungen.

Eine Rede muss immer im Kontext der Zeit gesehen werden. In den verkrusteten 90er-Jahren traf die Forderung nach einem Ruck zielgenau die Stimmung in der Bevölkerung, die die Krise des Landes an allen Ecken und Enden wahrnahm. Im Jahr 2018 würde eine Ruck-Rede schlicht und einfach verpuffen. Die Deutschen sind nicht naiv. Sie wissen sehr genau, dass sich die Zeiten zum Beispiel durch die Digitalisierung voraussichtlich massiv ändern werden, und sie erkennen sowohl die Risiken als auch die Chancen. Statt „German Angst“ wird es eine „German Adaption“ geben müssen, und die geschieht nicht durch einen Ruck, sondern durch sukzessive Veränderungen.

Natürlich gibt es in Deutschland nach wie vor Reformbedarf. Wenn Bildung der zentrale Faktor unserer Zukunft ist, sollte sich das sowohl in den Schulgebäuden als auch im Unterricht abbilden. Wer Mobilität konsequent umstellen möchte, wird anders als bisher einen konkreten Milliarden-Plan für die Anpassung der Infrastruktur benötigen. Und wenn Europa unsere gemeinsame Zukunft bleiben soll, wird dafür ein neuer, pro-europäischer Ansatz nötig sein, der auch viele Skeptiker wieder mit ins Brüsseler Boot holt. Wir werden für all die Herausforderungen keinen großen Ruck, sondern zahlreiche Rucke auf unterschiedlichen Feldern benötigen.

Viel wichtiger als ein Ruck ist eine ehrliche Diskussion über alle nötigen Veränderungen der kommenden Jahre und Jahrzehnte. Dabei sollten auch unbequeme Wahrheiten ausgesprochen werden, ohne dass der neue Internet-Pöbel auf der einen und die übertrieben achtsame Wort-Polizei auf der anderen Seite sofort den Skandal im Munde führt. Wenn die politischen Alternativen und unterschiedlichen Wege offen, ehrlich und fair diskutiert werden, braucht es keinen Ruck. Dann muss Deutschland einfach nur ruckfrei weiter in die richtige Richtung laufen.

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