Zu den aktuellen unversöhnlichen Positionen in der politischen Debatte in Deutschland gehört auch die Antwort auf die Frage, ob man mit Lockerungen und mehr Freiheiten so lange warten sollte, bis alle Menschen gegen Corona geimpft sind. Dies könnte ein Akt der Solidarität in der Gesellschaft sein – aber auch das Gegenteil davon. Die Rundblick-Redaktion bewertet den Vorschlag in einem Pro und Contra.

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PRO: Es geht nicht allein um Grundrechte, sondern auch eine Frage von Generationengerechtigkeit und Solidarität. Ein Staat, der die Impfreihenfolge selbst festgelegt, hat, steht gerade an einem heiklen Punkt. Es sollte nicht der Eindruck entstehen, dass sich junge Menschen in Deutschland mit der Dominanz der Älteren nun einmal abfinden müssen, meint Martin Brüning.

Niedersachsens Sozialministerin Daniela Behrens hat ja recht. Es geht in der Debatte nicht um mehr Freiheitsrechte für eine bestimmte Gruppe von Menschen, sondern um Grundrechte, die bisher eingeschränkt wurden, wie sie kürzlich in einem Gespräch in der Rundblick-Redaktion deutlich machte. Und für deren Teil-Entzug gibt es nach einer zweifachen Impfung eigentlich keine Grundlage mehr. Auch wenn Zweifler noch darauf hinweisen, dass es an längerfristigen wissenschaftlichen Erkenntnissen fehlt, so geht das Robert-Koch-Institut doch davon aus, dass vollständig Geimpfte das Virus kaum noch übertragen können. Insofern wäre es mit dem Grundgesetz nur schwer zu vereinbaren, Menschen mit Verboten zu belegen, die sich nicht mit eindeutigen Risiken begründen lassen.

Wenn der Staat in diesen Wochen bereits Geimpfte bevorzugt, setzt er gegenüber der jüngeren Generation ein fatales Signal.

Auf der anderen Seite geht es an dieser Stelle aber nicht allein um eine juristische Debatte, sondern vielmehr um eine Frage der Gerechtigkeit und Solidarität. Es hatten eben nicht alle Menschen in den vergangenen Wochen die Möglichkeit, sich impfen zu lassen – nicht nur wegen der mangelnden Verfügbarkeit von Impfstoffen, sondern auch wegen der vom Staat festgelegten Impfreihenfolge. Den Staat bringt das jetzt in eine heikle Lage: Wenn er in diesen Wochen bereits Geimpfte bevorzugt, setzt er gegenüber der jüngeren Generation ein fatales Signal.


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Sie ist die Generation, die solidarisch zuhause geblieben ist und teilweise seit Monaten keine Klassenzimmer mehr von innen gesehen hat. Sie hat auf Treffen mit Freunden verzichtet, ebenso auf das Feiern und auf das Reisen, um nicht nur sich selbst, sondern vor allem die Älteren zu schützen. Welches Bild gibt diese Gesellschaft ab, wenn die Schülerinnen und Schüler vom Staat immer zu noch einem inzidenzbasierten Stubenarrest verdonnert werden, die Senioren aber draußen in den Cafés in der Frühlingssonne sitzen?

Es wird gerne der Fortschritt gefordert, aber bitte nicht vor der eigenen Haustür.

Das passt nicht zusammen und treibt einen Spalt zwischen die Generationen, der ohnehin im Entstehen ist. Während abseits der Altersarmut ehemalige Chefredakteure in Leitartikeln darüber jammern, dass ihr Ferienhaus in Marrakesch jetzt so lange leer stand und bei Millionen Rentnern die Rente auch in den kommenden Jahren jeden Monat sicher auf dem Konto eingehen wird, steht die jüngere Generation vor einer ungewissen Zukunft. Sie lebt in einem Land, in der Menschen jenseits der 50 schon seit Jahren den Ton angeben: in der Politik, in der Wirtschaft, in der Nachbarschaft.

Die Alterspyramide hat auch viel mit der Bewegungsunfähigkeit dieses Landes zu tun. Wer die Rente vor Augen hat oder sie bereits erhält, wird weniger zukunftshungrig, steht Veränderungen eher skeptisch gegenüber. Man kann es anhand der Zahl der Funktionsjackenträger in Bürgerinitiativen ablesen. Es wird gerne der Fortschritt gefordert, aber bitte nicht vor der eigenen Haustür.

Die Politik sollte sich davor hüten, den Eindruck entstehen zu lassen, dass sich junge Menschen in Deutschland mit der Dominanz der Älteren nun einmal abfinden müssen.

Die jungen Menschen in Deutschland stehen dagegen vor einer vielleicht ganz anderen und vor allem viel unsichereren Zukunft. Während sie in maroden Klassenzimmern sitzen, ist der Wohlstand verteilt. In der Schule lernen sie, dass sie mit ihrem Einkommen irgendwann zwei Rentner finanzieren sollen, bekommen aber nie die Antwort, wie das eigentlich genau funktionieren wird. Der Arbeitsmarkt verändert sich radikal und in einem Tempo, das Generationen vor ihnen nie erlebt haben.

Und wie sich die Wirtschaft nach Corona – wann immer das sein wird – erholen wird, lässt sich schwer einschätzen. Die Politik sollte sich davor hüten, den Eindruck entstehen zu lassen, dass sich junge Menschen in Deutschland mit der Dominanz der Älteren nun einmal abfinden müssen. Erst zu Beginn der Corona-Krise und nun auch noch bei ihrem möglichen Ende.

Es geht ja ohnehin nur um ein paar Wochen. Wenn man der Bundes- und Landespolitik Glauben schenken darf – was vielen inzwischen nicht immer ganz leicht fällt – so wird es in den kommenden Wochen einen kräftigen Impfstoff-Schub geben, was zu einer Aufhebung der Impfreihenfolge führen wird. Hinzu werden sommerliche Temperaturen kommen, so dass wir in wenigen Wochen die Chance auf niedrigere Inzidenzwerte haben. Bis dahin wären wir gut beraten, allen Bürgerinnern und Bürgern dieselben Möglichkeiten zu geben. Dann kann die eine Gruppe mit dem Impfausweis in die Geschäfte und die andere Gruppe nach einem Schnelltest.

Unabdingbar bleibt dabei auch eine Öffnung der Schulen. Denn dass unsere Kinder nach einem Corona-Schnelltest wieder in die Stadt zum Shoppen, aber gleichzeitig nicht in die Schule dürfen, ist eine weitere unverständliche Unwucht dieser Zeit.

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CONTRA: Solidarität ist keine Gleichmacherei – sondern das Eingeständnis, dem anderen in einer konkreten Situation den Vortritt zu lassen. Das ist eine Absage an Neid und Missgunst. Nur so kann eine Gesellschaft funktionieren. Deshalb sollten die Jüngeren es akzeptieren, wenn geimpfte Menschen schon mal mehr Rechte nutzen können als die Ungeimpften, meint Klaus Wallbaum.

Was ist der tiefere Sinn des Grundwertes Solidarität? Die Corona-Krise führt uns dieses Thema vor Augen. Gemeinhin wird Solidarität verstanden als eine Form von Zusammengehörigkeitsgefühl – und das Eintreten füreinander. In der deutschen Diskussion ist immer wieder von „Solidarität mit den Schwachen“ die Rede. Übertragen etwa auf die Gewerkschaften heißt das, dass die Gewerkschaftsmitglieder, meistens Menschen mit Beschäftigung, gemeinsam streiten für diejenigen, die ohne Job sind, schlecht bezahlt sind oder unter schlechten Arbeitsbedingungen leiden.

Mit anderen Worten: Die Teile der Gesellschaft, denen es etwas besser geht, treten ein für die, die es nicht so gut haben. Dieses Prinzip ist konstitutionell für den Sozialstaat, denn er kann nur funktionieren mit dieser Form der Rücksichtnahme und der Unterstützung für die, die Hilfe nötig haben. Starke Schultern tragen die Schwachen.

Wie funktioniert nun Solidarität, wenn im Grunde alle gesellschaftlichen Gruppen unter diesem Virus leiden?

Die Corona-Krise stellt so viele Gewissheiten auf den Kopf, und jetzt auch diese. Denn das heimtückische Virus trifft arme und reiche Menschen, sportliche und vorerkrankte, junge und alte gleichermaßen. Anfangs hieß es, vor allem die Senioren seien gefährdet, daher sei die gewöhnliche Solidarität gefragt: Die Alten brauchen uns, daher sollen die Jungen den Kontakt mit ihnen meiden, daher sind sie auch beim Impfen zuerst an der Reihe.

Inzwischen nun wird vermittelt, häufigere Todesfälle würden bei Gruppen auftreten, die nicht so alt sind – weil die Menschen über 80 schon geimpft sind, und auch, weil die neue Virus-Mutante eben auch für jüngere Semester höchst gefährlich ist. Ja, sogar von Jugendlichen und Kindern mit Covid19-Langzeitschäden ist die Rede, mit unangenehmen Langzeitfolgen einer Erkrankung. Wie funktioniert nun Solidarität, wenn im Grunde alle gesellschaftlichen Gruppen unter diesem Virus leiden?

Ein Gastwirt, ein Einzelhändler und ein Reisevermittler würden mehr Mut zur Fortsetzung ihres Unternehmens fassen, wenn sie möglichst bald wieder Kunden und Gäste betreuen dürfen.

Der Wandel der Erkenntnisse zum Corona-Virus stellt die Gesellschaft vor eine Belastungsprobe: Wenn die Jungen den Alten den Vortritt gelassen haben beim Impfen, kann es dann gerecht sein, dass die geimpften Alten schon wieder in Gaststätten speisen, sich an Sandstränden sonnen oder das Shoppen genießen können, während die noch ungeimpften Jungen das noch nicht dürfen? Bricht hier ein neuer Generationenkonflikt auf? Müssen wir, wenn wir alle gemeinsam das Virus besiegen wollen, nicht so lange mit der Nutzung der lange ersehnten Freiheiten warten, bis der letzte von uns auch geimpft ist? Die Antwort ist nein.

Wer geimpft ist und das Virus weder weiter tragen noch selbst daran erkranken kann, dem kann man doch Rechte, die derzeit allgemein eingeschränkt sind, nicht mehr verwehren.

Diese Form der Solidarität verengt den Blick auf diejenigen, die noch nicht an der Reihe sind und mit berechtigtem Unverständnis auf jene Blicken, die schon geimpft werden konnten. Ihre Quelle ist der – durchaus nachvollziehbare – Neid. Wenn man die Betrachtung nun erweitert auf alle, die unter der Corona-Krise leiden, sieht es schon anders aus. Ein Gastwirt, ein Einzelhändler und ein Reisevermittler würden mehr Mut zur Fortsetzung ihres Unternehmens fassen, wenn sie möglichst bald wieder Kunden und Gäste betreuen dürfen. Je schneller diese Branchen wieder auf die Beine kommen, desto schneller steigen beim Staat, der Solidargemeinschaft, wieder die Steuereinnahmen. Daneben gilt noch etwas anderes: Wer geimpft ist und das Virus weder weiter tragen noch selbst daran erkranken kann, dem kann man doch Rechte, die derzeit allgemein eingeschränkt sind, nicht mehr verwehren – denn die Begründung dafür, der Schutz vor Ansteckung, fiele für diese Gruppe weg.

Neid ist in der Politik immer ein schlechter Ratgeber. Daher sollte jetzt, da anscheinend die Impfungen in Deutschland schneller vorangehen, eine neue Übereinkunft geschlossen werden: Wer geimpft ist, darf bereits zur Wiederbelebung der Wirtschaft beitragen.

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