Die Zahlen der Infizierten schnellen in die Höhe, die Politiker beraten über eine Verschärfung der Auflagen und Beschränkungen. Aber sind die Einschränkungen, die den Menschen auferlegt werden, überhaupt noch verhältnismäßig? Reichen die Begründungen dafür aus? Die Rundblick-Redaktion streitet darüber in einem Pro und Contra.

Pro & Contra: Klaus Wallbaum (li.) & Martin Brüning

Pro: Die Politik schießt mit dem Schrotgewehr in der Hoffnung, dass schon ein positiver Effekt eintreten wird. Dabei bleiben aber zu viele Fragen offen. Das kann Vertrauen kosten, kritisiert Martin Brüning.

Die Corona-Zahlen steigen und steigen und die Politik versucht, mit martialischen Maßnahmen die Lage in den Griff zu bekommen. Am Mittwochmorgen berichtete das Politikjournal Rundblick über eine Beschlussvorlage des Bundes, in dem wieder die Lockdown-Klaviatur hoch und runter gespielt wird: Restaurants zu, Kinos zu, Fitnessstudios zu, keine Privaturlauber mehr in Hotels. Deutschland macht den Laden dicht, aber nicht nur vermeintliche Querdenker fragen sich, ob diese weitgehenden Maßnahmen eigentlich gerechtfertigt sind. Denn abseits der Inzidenzwerte, die immer wieder als Grund herangezogen werden, gibt es auch ein halbes Jahr nach Beginn der Krise noch viele offene Fragen, die deutlich machen, dass die Sache möglicherweise nicht so klar ist, wie die Bundesregierung es darstellt. Das ruft zu Skeptiker auf den Plan.


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Eigentlich fängt es sogar schon bei den Inzidenzwerten an. Im Öffentlichen Gesundheitsdienst wird die Marke von 50 Neuinfizierten pro Woche auf 100.000 Einwohner als zu hoch angesehen, bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung hält man ihn inzwischen für zu niedrig, weil er festgelegt wurde, als die Zahl der Tests noch viel geringer war. Und so ist die Marke 50 in der Realität auch nicht immer besonders aussagekräftig, weil die Öffentlichen Gesundheitsdienste einiger Landkreise schon bei der Zahl 30 ins Schlingern geraten, andere wiederum auch bei einer Inzidenz von 100 noch mit der Nachverfolgung gut zurechtkommen. Die 50 ist eben auch nur eine politische Zahl.

Ab wann aber ein radikaler Lockdown nötig ist, um sowohl für Corona-Patienten als auch für andere nötige Eingriffe genügend Intensivbetten vorhalten zu können, bleibt eher unklar.

Andere Werte spielen in der Kommunikation der Maßnahmen meist nur eine untergeordnete Rolle, obwohl sie mindestens genauso wichtig sind. Gesundheitsminister Jens Spahn warnt zwar vor Engpässen in den Krankenhäusern. Ab wann aber ein radikaler Lockdown nötig ist, um sowohl für Corona-Patienten als auch für andere nötige Eingriffe genügend Intensivbetten vorhalten zu können, bleibt eher unklar. Das gilt ebenso für die Ansteckungswege. Denn die immer wieder verbreitete Behauptung, dass die Ansteckungen vor allem im privaten Bereich passieren und – laut Dehoga – nun zum Beispiel gerade nicht in Gaststätten oder Hotels, ist nur schwer nachzuweisen. Zwar gibt es entsprechende Diagramme des Robert-Koch-Instituts (RKI), aber die Datenbasis ist eher heikel.

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Viele derjenigen, die sich zuhause plötzlich schlecht fühlen, können nicht mehr nachvollziehen, wo und wie sich angesteckt haben könnten. Das stellt die weiße Weste von Hotels, Gaststätten und Fitnessstudios in Frage. Wenn man sich aber an die RKI-Daten hält, gibt es keinen Grund, zum Beispiel keine privaten Urlaube mehr in Hotels zuzulassen. Zum einen dürfte es den Daten zufolge dadurch nahezu keinen positiven Effekt geben, weil es dort kaum Infektionen gegeben hat. Zum anderen gäbe es als Vorstufe hier noch andere Möglichkeiten, zum Beispiel ein Verbot von Frühstücksbüffets. Wer sein Frühstück auf dem Zimmer einnimmt, steckt auch niemanden an.

Der Staat wäre gut beraten, angesichts so maßgeblicher Freiheitseinschränkungen besser zu informieren und sauberer zu argumentieren.

So bleibt der Verdacht, dass einfach nur mit dem politischen Schrotgewehr geschossen wird in der Hoffnung, dass ein Effekt schon eintreten wird. Der Staat wäre gut beraten, angesichts so maßgeblicher Freiheitseinschränkungen besser zu informieren und sauberer zu argumentieren. So ist in der aktuellen Verordnung der Region Hannover von einem hochansteckenden Krankheitserreger die Rede, „der bei einer Infektion mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer tödlich verlaufenden Erkrankung führen würde“. Das ist aber schlichtweg falsch, weil über 96 Prozent der Corona-Patienten eben glücklicherweise nicht sterben. Und bei den 3,6 Prozent, die zu den Todesopfern gezählt werden, nicht immer ganz klar ist, ob sie sie „am“ oder „mit“ dem Virus gestorben sind.

Unstreitig sollte sein, dass jeder Corona-Tote einer zu viel ist und alles daran gesetzt werden muss, vor allem die Risikogruppen so gut wie möglich zu schützen. Das kann auch über einen Lockdown passieren, wenn dieser unvermeidlich ist. Dass dies so ist, muss die Politik aber auch sauber belegen können. Hier gibt es Schwachpunkte, die inzwischen nicht nur bei sogenannten Corona-Leugnern, mit denen man häufig ohnehin nicht ordentlich diskutieren kann, die Skepsis wachsen lassen. Bisher sind wir in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern so gut es eben geht durch diese Krise gekommen. Aber der Vertrauensvorschuss in die Politik ist auch nicht unendlich. Sie muss sich schon bemühen, detailliert darzulegen, warum härteste Eingriffe in den Alltag nötig sind.

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Contra: Man kann es drehen und wenden, wie man will: Der Versuch der Politik, die Bewegungen der Menschen einzuschränken und damit die Ausbreitung des Corona-Virus zu verlangsamen, bleibt immer unvollkommen und in der Begründung mehr als fragwürdig. Das ist nun mal das Wesen von Ad-hoc-Entscheidungen in einer Krisensituation, meint Klaus Wallbaum.

Der sprunghafte Anstieg der Corona-Infektionen in Europa – und nun auch in Deutschland – wird von den Politikern als eine ernste Krise aufgenommen, eine Art Naturkatastrophe. Eine bedrohliche Naturgewalt, in diesem Fall das Virus, breitet sich immer mehr aus. Nun will man versuchen, es abzuwehren. Die Schritte, die dafür diskutiert werden, haben alle einen Nachteil: Jeder für sich ist sehr hart und auch schlecht begründet. Der Nachweis, in jedem Einzelfall genau den Bereich eingegrenzt zu haben, von dem eine Gesundheitsgefahr ausgeht, wird nicht möglich sein. Das ist das Tragische an dieser aktuellen Situation: Die Politik will nicht nur handeln, sie muss handeln. Aber jede einzelne Maßnahme klingt willkürlich konstruiert. Wie viel einfacher hätte es die Politik doch gehabt, wenn es sich um eine Flut gehandelt hätte – dann wären Deiche und Schutzmauern aufgerichtet worden, deren Zweck niemand in Frage stellen könnte.

Wenn man Gaststätten schließt, obwohl dort perfekte Hygienekonzepte bestehen, den Friseurbesuch mit der hohen Gefahr einer Kontaktaufnahme aber weiter erlauben will, dann ist das ein Ungleichgewicht.

Hier aber ist es anders, und der Teufel steckt im Detail. Wenn man Gaststätten schließt, obwohl dort perfekte Hygienekonzepte bestehen, den Friseurbesuch mit der hohen Gefahr einer Kontaktaufnahme aber weiter erlauben will, dann ist das ein Ungleichgewicht. Wenn man abendliche Veranstaltungen untersagt, obwohl dort Abstandsgebote eingehalten werden, den Schulbetrieb mit der hochwahrscheinlichen Verletzung der Distanzregeln aber erlauben will, dann passt auch das schlecht zusammen. Warum tut man das eine, lässt aber das andere?

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Die Antwort lautet: Der Staat will alles tun, damit sich die Menschen weniger bewegen, weniger mit anderen in Kontakt kommen und damit das Ansteckungsrisiko verringern. Das belastet die Wirtschaft und die Staatsfinanzen. Aber damit das nicht zu drastisch geschieht, sollen Schulen und Kindergärten nicht betroffen sein, denn die Eltern sollen weiter ihrer gewohnten Arbeit nachgehen können. Im Ergebnis werden die einen hart getroffen und die anderen verschont, wobei eine klare Ursache-Wirkung-Beziehung bei den Einschränkungen gar nicht zugrunde liegen kann. Zum einen wissen wir zu wenig über das Virus, zum anderen sind die Kontakt-Nachverfolgungen zwar sinnvoll. Was sie aber nicht leisten können, ist der klare Beleg, in welchem Moment bei welchem Fehlverhalten die Menschen sich infiziert haben. Das ist das Unheimliche an diesem Virus.

Wenn die Bürger ihre Freiheitsrechte verlieren, soll das höchste Organ, die Volksvertretung, das legitimieren.

Die absehbare Sondersitzung des Landtags, in der Einschränkungen beschlossen werden sollen, ist richtig und sinnvoll. Wenn die Bürger ihre Freiheitsrechte verlieren, soll das höchste Organ, die Volksvertretung, das legitimieren. Die bei manchen mitschwingende Erwartung jedoch, über eine Parlamentsbeteiligung könnten die Corona-bedingten Eingriffe in die Freiheit besser begründet werden oder rational nachvollziehbarer, führt in die Irre. Wirklich konsequent und rechtlich einwandfrei begründet kann nur der Vorschlag des baden-württembergischen Innenministers Thomas Strobl sein, nämlich das gesamte öffentliche Leben für eine Woche komplett herunterzufahren – also alle Einrichtungen zu schließen und eine Ausgangssperre zu verhängen. Das aber hieße: Die Menschen dürften nicht mehr arbeiten, nicht mehr einkaufen und auch sonst ihre Wohnung nicht verlassen. Aus guten Gründen, vor allem wirtschaftlichen, verzichtet man auf diese Radikal-Lösung, obwohl sie als einzige juristisch absolut wasserdicht wäre.

Nicht ohne Grund heißt es immer: Die Krise ist die Stunde der Exekutive, der kurzfristigen Regierungsanordnung anstelle der ausgefeilten, intensiv abgewogenen und ausdiskutierten Parlamentsgesetzgebung. Ein Grund dafür ist, dass man in der Krise schnell reagieren muss. Ein anderer, dass man in der Krise auch Mittel anwenden muss, die ungerecht und einseitig sind, um rasch einen übergeordneten Zweck zu erreichen. Das hat den Hauch des Diktatorischen. Zu beneiden ist kein Politiker, der gegenwärtig regiert.

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