Deutschland setzt auf Freiwilligkeit und auf Einsicht – und hofft damit, dass auch noch die letzten 20 Prozent der erwachsenen Bevölkerung so klug sein werden und sich gegen Corona impfen lassen. Ganz ohne Zwang. Klar ist: Erst mit einer „Herdenimmunität“ ist die Gesellschaft richtig geschützt vor dem Virus. Ist das der richtige Weg, oder sollte man ihn verschärfen? Die Rundblick-Redaktion streitet darüber in einem Pro und Contra.

Foto: daboost/Getty Images / RB

PRO: Gegen eine Impfpflicht sprechen zum jetzigen Zeitpunkt nicht nur ethisch-rechtliche Zweifel. Es ist auch viel zu früh, überhaupt darüber zu diskutieren. In zwei oder drei Monaten hat sich das Thema vielleicht schon von selbst erledigt, dann könnte die Welle der späten Impflinge in den Praxen auflaufen, meint Martin Brüning.

Zugegeben, die sich steigernde Impfmüdigkeit kann einem Sorge bereiten. Inzwischen mangelt es vielerorts nicht mehr am Impfstoff, sondern an Oberarmen, um den Impfstoff vielfach unter die Leute zu bringen. Die Sorgen einer nachlassenden Impfbereitschaft richten sich nicht auf den Einzelnen, der durch das Ablehnen einer Impfung sein persönliches Corona-Risiko erhöht. Es geht vielmehr um die gesellschaftliche Komponente, die mit dieser Entscheidung einhergeht. Bleibt ein größerer Teil der Gesellschaft ungeimpft, besteht Experten zufolge das Risiko sogenannter Fluchtmutationen. Das Virus mutiert dabei weiter fröhlich vor sich hin, und die Folge wäre, dass der ewige Kreislauf von niedrigen und hohen Inzidenzen, leeren und übervollen Krankenhäusern und am Ende doch wiederkehrenden Lockdowns niemals ein Ende nehmen könnte. Die Rückkehr des sogenannten „normalen Lebens“, also des Lebens, wie wir es vor Corona kannten, könnte sich dann immer weiter hinauszögern. Ein frustrierendes Szenario.

Dennoch ist eine Pflicht zur Impfung – zumindest zum jetzigen Zeitpunkt – nicht die Lösung. Eine Impfpflicht für einzelne Berufsgruppen ergibt in Deutschland schon einmal gar keinen Sinn, weil die Impfbereitschaft der Beschäftigten im Gesundheitssektor sehr hoch ist und die Lehrkräfte zum Beispiel in Niedersachsen nahezu durchgeimpft sind. Für eine Impfpflicht für Pflegekräfte wie in Frankreich gibt es hierzulande überhaupt keinen Anlass. Bleibt also die generelle Corona-Impflicht für alle, ähnlich wie bei der obligatorischen Masern-Impfung. Diese stößt aber nicht nur auf ethisch-rechtliche Bedenken, es ist schlichtweg auch viel zu früh, einen solch drastischen Schritt jetzt schon ins Auge zu fassen.

Zwang ist fast nie eine gute Lösung

Generell gilt: Die Corona-Impfung ist ein medizinischer Eingriff. Hier geht es um das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, und deshalb ist eine Impflicht nicht gleichzusetzen zum Beispiel mit einer Maskenpflicht in Geschäften oder in Bussen und Bahnen. Setzt der Staat das Recht auf Selbstbestimmung an diesem Punkt außer Kraft, muss es dafür gewichtige Gründe geben. Diese können aber noch gar nicht vorliegen, und das hat auch mit dem Faktor Zeit zu tun. In diesen Tagen ist es schlichtweg noch viel zu früh, um einen realistischen Überblick über die Impfbereitschaft zu haben. Zu Beginn versagte der Staat selbst bei der Beschaffung und professionellen Verteilung des Impfstoffs, wir erleben gerade erst die ersten Wochen, in denen sich das Verhältnis von Impfstoff-Menge und Zahl der Impfwilligen umkehrt. Dies findet ausgerechnet in ein einer Phase statt, in der die Inzidenzen niedrig und zahlreiche Menschen  in den Sommerferien sind. Spätestens in ein paar Wochen, wenn sich die Zahl der Corona-Infizierten durch die Delta-Variante und in Vergessenheit geratene Corona-Regeln wieder deutlich erhöht, könnte sich die Zahl der Impf-Interessierten wieder deutlich erhöhen. So könnte sich eine Diskussion um eine Impfpflicht von selbst erledigen.

Doch selbst wenn das nicht der Fall sein sollte, bleiben Zweifel, ob eine Verpflichtung zur Impfstoff-Spritze ein ethisch gangbarer Weg ist. Denn während die Folgen der Masern-Impfung auch längerfristig durchgeforscht sind, bleiben bei der Corona-Impfung immer noch viele Fragen. Noch ist unklar, wie sich die Vakzine langfristig auf unsere Körper auswirken. Impfreaktionen treten zwar in der Regel sofort auf, es gibt aber auch seltenere Nebenwirkungen, die nach Angaben von Pharmazeuten erst genauer beurteilt werden können, wenn ein Vakzin in großem Umfang verimpft worden ist. Es war beeindruckend, wie schnell Impfstoffe gegen das Corona-Virus entwickelt worden sind. Der Zeitraum der Anwendung ist aber noch sehr kurz, um eine Bundesregierung in die Lage zu versetzen, eine Impfpflicht für diese Stoffe ins Auge zu fassen. Darüber hinaus bleibt das Problem der Impfempfehlungen für unter-18-Jährige. Bei Jugendlichen ließe sich erst recht keine Impfpflicht durchsetzen. Das führt aber zu einer niedrigen Impfrate der Bevölkerung, und das wiederum könnte eine Impfpflicht für alle anderen ad absurdum führen.

In diesen Tagen ist es schlichtweg noch viel zu früh, um einen realistischen Überblick über die Impfbereitschaft zu haben.

Zuletzt muss man festhalten, dass Zwang in den seltensten Fällen eine gute Lösung ist. Er unterminiert Vertrauen, das angesichts der politischen Patzer in der Corona-Krise so dringend erforderlich ist. Besser als eine Pflicht ist eine breite, niedrigschwellige und vertrauenswürdige Aufklärung. Ob man dazu David Hasselhoff benötigt, sei dahin gestellt. Auf jeden Fall wird man aber nach der Desorganisation der vergangenen Monate professionelle und sinnvolle Abläufe etablieren müssen, damit Impfzentren, Haus- und Betriebsärzte jederzeit in der Lage sind, so viele Menschen wie möglich zu impfen. Spätestens, wenn die Zahl der Testzentren sinkt und Ungeimpfte weite Wege auf sich nehmen müssen, um sich für eine Feier oder eine Veranstaltung erst testen zu lassen, kommt dort nämlich im besten Fall die nächste Welle an: die Welle der späten Impflinge.

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CONTRA: Übertriebene Rücksichtnahme auf jene, die alle staatlichen Verpflichtungen für Teufelszeug halten, ist fehl am Platze. Wenn die Corona-Pandemie so ernst und gefährlich ist, wie die Bundesregierung seit anderthalb Jahren nicht müde wird zu betonen, dann sind auch harte Schritte nötig, meint Klaus Wallbaum.

Das staatliche Handeln in Deutschland wirkt in der Corona-Krisenzeit zuweilen merkwürdig inkonsequent. Nun sind schon die Parlamente weitgehend in die Zuschauerrolle gedrängt worden, die Krise war in weiten Teilen tatsächlich die Stunde der Exekutive. Doch die Erwartung, dann würde alles schneller, klarer und widerspruchsfreier laufen, hat sich nicht erfüllt. Man merkt in der Bundesrepublik eben immer wieder: Der Streit zwischen dem „Team Vorsicht“ hier und dem „Team Freiheit“ dort geht auch mitten durch die ausführenden Organe, teilt Regierungen von Bund und Ländern, ist auch innerhalb der Regierungen ungeklärt. Das ist nicht schlimm, sondern nur Ausdruck einer an sich erstrebenswerten Pluralität. Allein: In Krisenzeiten wirkt so etwas verwirrend, und das ist kontraproduktiv.


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Mit aller Macht und viel Geld hat der deutsche Staat eine Impfkampagne organisiert, Impfzentren aus dem Boden gestampft und Impfstoff organisiert. Auch wenn es nicht so schnell anlief wie in anderen Ländern, ist diese organisatorische Leistung unterm Strich doch beachtlich. Das können die Deutschen, sie haben es unter Beweis gestellt. Aber die Weigerung der Bundesregierung, nun mit einer Impfpflicht auch den letzten Unwilligen mit einem Druckmittel auf den Weg zur Impfung zu bringen, passt so gar nicht zu der Rhetorik der Regierung. Wenn die Corona-Pandemie so ernst und gefährlich ist, wie die Bundesregierung seit anderthalb Jahren nicht müde wird, es zu betonen, dann sind auch harte Schritte zur Umsetzung und zur Erfolgsgarantie der Politik erforderlich.

Es geht ja nicht darum, die Impfmuffel, Impfskeptiker und Impfgegner zu ihrem Glück zu zwingen. Nicht der Schutz ihrer Gesundheit ist das Motiv , wenn die Regierung jetzt um die letzten verbliebenen Nicht-Geimpften wirbt.

Um es klar zu sagen: Es geht ja nicht darum, die Impfmuffel, Impfskeptiker und Impfgegner zu ihrem Glück zu zwingen. Nicht der Schutz ihrer Gesundheit ist das Motiv , wenn die Regierung jetzt um die letzten verbliebenen Nicht-Geimpften wirbt. Am Ende ist jeder für seine eigene Gesunderhaltung verantwortlich. Nein, es geht um die klare Botschaft, dass ein solches Virus nur über eine Herdenimmunität klein gehalten werden kann, dass nur eine Impfquote von mehr als 80 Prozent eine Gewähr dafür bietet, dass sich das Virus nicht weiter ausbreiten und über Varianten doch wieder gefährlich werden kann. Den Noch-Nicht-Geimpften wird vielmehr die Solidarität für die gesamte Gesellschaft abgefordert. Wenn sie aber nicht dazu bereit sind, und damit muss man bei einer Minderheit der Bevölkerung immer rechnen, dann hilft eben nur ein Druckmittel.

Wie eine Impfpflicht aussehen soll, steht nun auf einem anderen Blatt. Eine Möglichkeit wäre, die Betroffenen zum Impftermin vorzuladen und bei Zuwiderhandlung ein Zwangsgeld aufzuerlegen, womöglich gar die Beugehaft. Das wäre die härteste denkbare Keule, die muss es nicht sein. Aber ein begründbarer Schritt wäre es schon, den freien Zutritt zu Geschäften, Veranstaltungen und Versammlungen nur jenen zu gestatten, die geimpft sind und das mit ihrem digitalen Impfausweis belegen. Das ist sinnvoll allerdings erst dann, wenn jeder, der es wollte, auch schon seinen vollständigen Impfschutz bekommen hat. Da von den Nicht-Geimpften auf Dauer eine Gefahr für die Herdenimmunität ausgeht, kann man solche Beschränkungen sehr wohl begründen.

Leider lassen die Bundesregierung und die meisten Landesregierungen eine derartige Konsequenz bisher vermissen. Sie wollen den Menschen nicht zu viel zumuten. Warum eigentlich nicht? Weil sie Angst haben, dass die verrückten Verschwörungstheoretiker mit ihrer Angstmacherei vor einem angeblichen Überwachungsstaat Zulauf bekommen? Das wäre töricht. Weil sie viel lieber mit einer Wohlfühl-Politik überzeugen wollen? Das wäre auch töricht. Es ist an der Zeit, dass die Politik der Corona-Pandemie den Ernst einräumt, den diese Krise verdient. Dazu gehört die Impfpflicht.

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