Heute Nacht richten sich alle Blicke auf die Vereinigten Staaten von Amerika. Wenn dort ein neuer Präsident gewählt wird, stehen sich immer auch die Atlantiker und die Kontinentalisten gegenüber. Die einen betonen das westliche Bündnis und wollen es erhalten, die anderen mahnen zur Besinnung auf die europäische Stärke. Was ist der richtige Weg für Deutschland? Die Rundblick-Redaktion widmet sich dem Thema in einem Pro und Contra.

Foto: DQM; narvikk

PRO: Es gibt nun einmal kein Ende der Geschichte, sondern eine Weiterentwicklung der weltweiten Beziehungen. Europa muss raus aus der Defensive und seine wirtschaftliche Kraft auch in politische Stärke umwandeln, meint Martin Brüning.

Ausgerechnet Friedrich Merz, den einige zwischenzeitlich als Donald Trump der Union bezeichnet haben, was ihm nicht gerecht wird, legte bereits im Januar 2019 in Hannover den Finger in die transatlantische Wunde. Bei einer Veranstaltung des Beratungsunternehmens Ernst & Young in Hannover wies Merz, damals noch Vorsitzender der Atlantik-Brücke, auf die „tektonische Verschiebung der Macht- und Einflusssphären“ hin. Europa müsse sich entscheiden: „Wollen wir auf der Bühne der Welt aktiv mitgestalten oder zum Spielball und zum behandelten Objekt werden?“, fragte der CDU-Politiker, wobei seine Antwort eindeutig ausfiel: Europa müsse endlich erwachsen und ein Faktor auf der Weltbühne werden.

Nun werden viele ohnehin nicht gerne erwachsen, weil die Adoleszenz mit unerwünschten Verpflichtungen einhergeht. In der Europäischen Union kommt noch hinzu, dass der Zeitpunkt, die Abhängigkeit hinter sich zu lassen und mehr außenpolitische Selbständigkeit zu wagen, kein günstiger ist, schließlich driftet Europa selbst auseinander. Das Corona-Virus führt plötzlich wieder zu geschlossenen Grenzen, beim Umgang mit den Flüchtlingsbewegungen liegen die Positionen immer noch weit auseinander, und mit Großbritannien verliert die EU nicht nur ein Mitglied. Der Ausstieg wird voraussichtlich mit einem harten Knall geschehen, weil ein harter Brexit kein sanfter Übergang sein kann. Andererseits hat gerade der Brexit deutlich gemacht, dass die europäischen Staaten eben doch zusammenstehen können, wenn es darauf ankommt.

Wir sind in der Sicherheit aufgewachsen, dass die USA an unserer Seite stehen, was auch passieren wird. Diese Sicherheit gibt es nicht mehr.

Und diese Gemeinsamkeit ist dringend nötig, wenn man sich die geänderte Rolle der USA in der Welt näher betrachtet und die Folgen für das transatlantische Verhältnis in diese Betrachtungen mit einbezieht. Dabei geht es nicht um den Ausgang der US-Präsidentschaftswahl am 3. November. Natürlich wäre eine Abwahl Donald Trumps für das Verhältnis der USA zu anderen Staaten eine Erleichterung, aber manche Risse sind unabhängig von Trump entstanden und werden sich auch mit Joe Biden nicht so einfach kitten lassen. Nicht nur in den USA werden inzwischen die Nachteile der Globalisierung erkannt, die nicht automatisch in jedem Portemonnaie zu mehr Geld führt, sondern auch dazu, dass Regionen, die auch ohne Globalisierung eher schlechte Zukunftsperspektiven gehabt hätten, noch schneller abgehängt werden. In der US-Wirtschaft wird man auch nach der Wahl kritisch auf die starke Exportorientierung Deutschlands schauen und sich von China nicht die Butter vom Brot nehmen lassen wollen.

Für überzeugte Transatlantiker sind es keine einfachen Zeiten. Viele sind in Zeiten der klaren Westbindung aufgewachsen, die Einteilung der Welt war nicht ganz ungefährlich, machte das Leben aber auch einfacher. Und noch heute wird das Verhältnis zu den USA teilweise immer noch als außenpolitischer Gradmesser beurteilt. Doch diese Zeiten sind vorbei und auch manche anderen Gemeinsamkeiten sind uns in den vergangenen Jahren ein wenig ausgegangen. Wir sind in der Sicherheit aufgewachsen, dass die USA an unserer Seite stehen, was auch passieren wird. Diese Sicherheit gibt es nicht mehr.

Auch deshalb ist jetzt ein stärkeres Europa gefragt. Es muss raus aus der Defensive und seine wirtschaftliche Kraft auch in politische Stärke umwandeln. Das muss kein Ende der Freundschaft bedeuten, es braucht weiterhin überzeugte Transatlantiker auf beiden Seiten. Eine stärkere EU bedeutet nicht gleichzeitig die Aufgabe der transatlantischen Beziehungen, im Gegenteil: Zwei Partner auf Augenhöhe könnten einen neuen transatlantischen Vertrag schließen. Es gibt eben kein Ende der Geschichte, sondern eine Weiterentwicklung der weltweiten Beziehungen. Um zu einem stärkeren Europa zu kommen, wird eine funktionierende Achse Berlin-Paris eine wichtige Grundvoraussetzung sein. Frankreichs Premierminister Emmanuel Macron ist mit seinem Wunsch nach einem souveränen Europa der schlafmützigen deutschen Außenpolitik schon seit Jahren gedanklich voraus. Man muss nicht den alten Begriff der „Weltmacht“ bemühen, um dafür einzutreten, die internationale Politik nicht mehr nur von der Zuschauertribüne aus zu verfolgen. Wer sich klein macht, gewinnt nicht an Größe, sondern wird im Zweifel kleingemacht. Die Europäer sollten größer denken und eine ihrer Größe entsprechende Verantwortung in der Welt übernehmen.

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CONTRA: Deutschland und Europa haben eine Nähe zu den Amerikanern. Die Demokratie in den USA mag in einer Krise sein, die sich vor vier Jahren manifestierte, als die US-Bürger einen völlig ungeeigneten Mann an die Spitze ihres Staates wählten. Das war Ausdruck einer zunehmend gespaltenen Gesellschaft in den USA. Trotz dieser aktuellen Probleme bleibt es dabei – die demokratischen Werte und Verfahren der westlichen Welt sind für uns maßgebend, wir sollten daher diese Beziehungen pflegen, meint Klaus Wallbaum.

Die USA stecken in einer tiefen gesellschaftlichen Krise. Diese wird nicht überwunden sein, wenn – was zu hoffen ist – Donald Trump heute als US-Präsident abgewählt wird. Aber vielleicht wird ein neuer Präsident Joe Biden die Erwartungen nicht enttäuschen und dringend nötige Schritte unternehmen, die verfeindeten politischen Lager in Amerika wieder zusammenzuführen. Höchste Zeit wäre es jedenfalls. Es sind so viele Gegensätze, die gegenwärtig deutlich werden in den Vereinigten Staaten. Fanatische Anhänger von Republikanern und Demokraten beschimpfen sich mit Hass-Botschaften. Weiße Polizisten bedrängen schwarze Bürger, bei den folgenden Unruhen kommt es zu Gewaltausbrüchen. Der Gegensatz zwischen Reichen und Armen, Stadt- und Landbevölkerung, Gebildeten und Ungebildeten nimmt spürbar zu. Alles in allem leiden die öffentliche Ordnung und Sicherheit unter solchen Auseinandersetzungen, und einen weiteren Schritt zur Destabilisierung unternimmt Trump selbst, wenn er mit voller Absicht Zweifel an seiner Verfassungstreue kundtut und offen lässt, ob er eine demokratische Abwahl als solche zu akzeptieren bereit wäre.

Sollte die nächste US-Regierung unter einem Präsidenten Biden die Wiederbelebung des westlichen Bündnisses anstreben, darf die EU das Angebot nicht ausschlagen.

Zwei Dinge müssen hier beachtet werden: Was wir sehen, ist das medial vermittelte Bild. Im Wahlkampf haben viele Seiten, auch Außenstehende, Interesse an einer Überspitzung. Wer den nahenden Zusammenbruch eines Systems beschreibt, kann damit die Hoffnung verknüpfen, selbst als starker Mann und Retter gerufen zu werden. Zweitens aber trügt der Eindruck nicht, dass es die vermittelnden, auf Ausgleich und Verständigung ausgerichteten Kräfte derzeit schwer haben, Gehör zu finden. Schon zu Zeiten von Präsident Barack Obama war die wachsende Polarisierung in der Gesellschaft als großes Problem beschrieben worden, unter Trump hat das noch einmal zugenommen. Ein demokratisches System kann auf Dauer aber nur funktionieren, wenn nicht allein der Wettbewerb das bestimmende Element ist, sondern ebenso die Fähigkeit zum Kompromiss und zum Zusammenraufen.

Trotz der offensichtlichen Krise sind die Werte und Traditionen, die mit dem amerikanischen Politikmodell verknüpft sind, nach wie vor erhaltens- und schützenswert. Diese Tatsache sollte man sich immer dann bewusst machen, wenn die Frage nach der weltpolitischen Rolle Europas gestellt und gefordert wird, die EU solle sich als eigenständige Größe außenpolitisch aufstellen und nicht mehr auf die Renaissance des engen Bündnisses zwischen USA und EU setzen. Hier ist Vorsicht geboten, die Europäer dürfen sich nicht zu rasch abwenden. Sollte die nächste US-Regierung unter einem Präsidenten Biden die Wiederbelebung des westlichen Bündnisses anstreben und sich wieder stärker Richtung Europa orientieren, darf die EU das Angebot nicht ausschlagen, sie sollte dann dort mitmachen. Die EU an sich ist längst nicht stark genug, eine solitäre Rolle in der Welt zu spielen. Gegen die Abwendung von den USA spricht auch, dass die beiden anderen starken Mächte im Osten, die als neue strategische Bündnispartner theoretisch in Betracht kämen, bei näherer Prüfung praktisch für eine solche Rolle auszuschließen sind: In Russland entwickelt sich ein autokratisches Gesellschaftssystem, der Machtapparat agiert mit der Einschüchterung der Regimekritiker – das kann keine Basis für eine auf Vertrauen basierende Kooperation sein.

In China verfestigt sich eine Ein-Parteien-Diktatur, die marktwirtschaftliche Elemente mit dem totalen Überwachungsstaat verknüpft. Abweichendes Verhalten wird bestraft. Das sind Zustände, die für eine demokratische Gesellschaft unannehmbar sind. Bei allen Tendenzen in verschiedenen Gesellschaften des Westens, die sich auch gegen die Gewaltenteilung richten – sei es in Ungarn, in Polen oder auch in den USA – bleibt doch noch ein gewaltiger Unterschied zu den Verhältnissen in den östlichen Großmächten. Die geographische Position in der Mitte zwischen den USA im Westen und Russland und China im Osten zwingt zu einer vermittelnden Rolle in der Außenpolitik. Das war so und das bleibt auch so. Klar muss aber auch sein: Die EU kann das nur leisten, wenn eine starke und belastbare Partnerschaft zu den USA besteht. Daher ist ein politischer Wechsel an der Spitze der USA so wichtig, es muss dort jemand regieren, der verlässlich ist und Stabilität gewährleisten will.

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