An negativen Prognosen herrschte bisher kein Mangel: Die Altersversorgung werde zusammenbrechen, wenn die Baby-Boomer erst massenweise das Rentenalter erreichen, hieß es vor einigen Jahren. Entweder müsse man dann die Rentenbeiträge erhöhen, die Renten kürzen oder den Beginn des Ruhestandes hinausschieben.

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„Doch die neuesten Zahlen zeichnen ein anderes Bild“, sagte Prof. Michael Sommer, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover (DRV), während eines Fachkongresses seiner Organisation am Montag in Hannover-Laatzen. Es gebe Grund zur Entwarnung. DRV-Geschäftsführer Jan Miede ergänzte: „Wir wollen Mut verbreiten – und wir haben Grund dazu. Wenn alle sich anstrengen, dann schaffen wir die Herausforderung des demographischen Wandels.“

Prognose von 2011 ist nicht eingetreten

Zu drei Expertenvorträgen hatte die DRV Braunschweig-Hannover mehrere Institutionen und Verbände eingeladen. Anschaulich erläuterte Prof. Hilmar Schneider, derzeit Universität Luxemburg, die Ursachen der gewandelten Forschungsergebnisse. Als man 2011 eine Prognose für das Jahr 2035 abgegeben habe, sah diese folgende Eckdaten vor: Es würden 81,5 Millionen Menschen in Deutschland leben, man werde 10 Millionen weniger Arbeitnehmer und 10 Millionen mehr Rentner haben, der Beitragssatz für die Rentenversicherung werde die 30-Prozent-Marke überspringen.



Im Lichte der „15. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung“ von Ende 2022 seien die Erwartungen für das Jahr 2035 jetzt ganz andere: Die Einwohnerzahl steige auf 84 Millionen Menschen, die Zahl der Rentner wachse zwar – aber die Zahl der Menschen im arbeitsfähigen Alter gehe nicht drastisch zurück, sondern bleibe etwa auf dem bisherigen Niveau. Warum nun diese Abweichung?

Schneider erklärt das mit verzögerten Angaben zur Volkszählung, die Daten von 2011 lagen erst 2014 vor, und sie deuteten unerwartete Trends an: die Zuwanderung ist stärker (vor allem wegen der Arbeitnehmer-Freizügigkeit in der EU), die Zahl der Geburten liegt höher – und die Lebenserwartung erhöht sich, das belegte die Corona-Zeit besonders, dann doch nicht so stark wie noch 2011 angenommen worden war.

Zahl der Arbeitnehmer steigt unerwartet an

Der mit Abstand wichtigste Grund aber liegt laut Schneider im Arbeitsmarkt: Von 2011 bis 2021 stieg die Zahl der Arbeitnehmer in Deutschland um 12 Prozent auf 41 Millionen – und das trotz einer gleichbleibenden Zahl von Menschen im erwerbsfähigen Alter. Prof. Schneider hat eine Erklärung dafür: „Die Zahl der Jobs ist enorm angestiegen, viel mehr Menschen haben eine Arbeit angenommen. Wenn es am Arbeitsmarkt gut läuft, rettet das die Rente.“ Der Effekt der Mehrarbeit zwischen 2011 und 2021 lasse sich auch in einer statistischen Zahl ausdrücken: „Mal unterstellt, der Anteil der Arbeitnehmer unter der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter wäre gleich geblieben. Dann wäre es so, als hätten wir 7 Millionen mehr Menschen in Beschäftigung.“

„Die Rente mit 63 wird für die Rentenkasse noch zu einer sehr teuren Angelegenheit werden.“

Prof. Hilmar Schneider

Allerdings hat Prof. Schneider auch eine Warnung parat: „Wir müssen die gute Lage am Arbeitsmarkt erkämpfen, sie stellt sich nicht von allein ein – und ich habe Sorge, dass wir uns auf unseren Lorbeeren ausruhen.“ So hänge der Erfolg auch mit der Wirksamkeit der Hartz-Gesetze zusammen und damit, dass diese nach 2005 „die faktische Frühverrentung der Menschen ab Mitte 50 beendet“ hätten.

Hartz zurückzudrehen, sei riskant. Und wenn man jetzt über eine Vier-Tage-Woche oder das Ende der Wachstumsgesellschaft rede, schade das der Wirtschaft, gefährde den Arbeitsmarkt und damit die Alterssicherung der gesetzlichen Rentenversicherung. Die „Rente mit 63“ sei auch ein Fehler. „Jens Spahns Forderung, sie abzuschaffen, ist sachlich gerechtfertigt – aber es dürfte politisch unmöglich sein, das zu erreichen.“ Dann fügte Prof. Schneider noch einen Kernsatz hinzu: „Die Rente mit 63 wird für die Rentenkasse noch zu einer sehr teuren Angelegenheit werden.“

Die drei Gastredner (von links): Prof. Stephan Thomsen, Prof. Hilmar Schneider und Reinhold Thiede. | Foto: DRV

Rente ab 63 birgt einige Gefahren

Auch Prof. Stephan Thomsen von der Leibniz-Universität Hannover spricht von Fehlentwicklungen. Die Entscheidung von 2014, Arbeitnehmern die Chance der Rente mit 63 zu bieten, sei „gefährlich“, denn dabei habe man die Ruhestandswelle der Baby-Boomer ausgeklammert. Ein anderer Fehler sei es gewesen, die Verkürzung der gymnasialen Schulzeit von neun auf acht Jahre wieder rückgängig zu machen. „Das wird in Niedersachsen Kosten zwischen 500 und 750 Millionen Euro verursacht haben – über längere Ausbildungen, mehr Lehrkräfte und fehlende Arbeitskräfte am Markt.“

Die Mindestlohn-Vorgaben hätten gerade bei vielen Beschäftigten mit Migrationshintergrund, die einfache Tätigkeiten ausführten, zu Entlassungen und Umwandlungen von Vollzeit- in Teilzeit-Tätigkeiten geführt. „Das ist das Gegenteil von dem, was wir eigentlich wollten.“ Reinhold Thiede von der Rentenversicherung Bund teilte den Pessimismus von Schneider und Thomsen hinsichtlich verschiedener Reformprojekte nicht. Die Rentenversicherung habe über viele Jahre immer wieder bewiesen, dass sie anpassungsfähig sei und Reformen bewältigen könne.