Es kommt wohl alles nicht so schlimm wie befürchtet: Die Norddeutsche Landesbank geht zwar in ihrer Neujahrsprognose weiterhin von einer Abkühlung der Weltwirtschaft aus. Für Niedersachsen erwartet die Nord/LB jedoch keinen konjunkturellen Absturz mehr, sondern sogar ein leichtes Wirtschaftswachstum von 0,3 Prozent. „Es bleibt herausfordernd, die Risiken sind weiter hoch. Aber der Ausblick auf das Jahr 2023 ist besser als erwartet. Die schon fest eingeplante Rezession wird wahrscheinlich gar nicht kommen“, sagte gestern Nord/LB-Chefökonom Christian Lips. Für Deutschland rechnet er mit einem Wachstum von 0,2 Prozent beim Bruttoinlandsprodukt (BIP), was sich mit der ebenfalls gestern vorgestellten Prognose des Bundeswirtschaftsministeriums deckt.

Eberhard Brezski (von links) Christoph Dieng und Christian Lips stellen den Jahresausblick der Nord/LB für das Jahr 2023 vor.

Dass die Wirtschaftskraft in Niedersachsen etwas mehr zulegt als der Bundesdurchschnitt, erklärt Nord/LB-Volkswirt Eberhard Brezski mit dem regionalen Branchenmix. Mit der Automotive- und Fahrzeugbauindustrie, zu der auch die Schiffswerften zählen, habe sich die für Niedersachsen wichtigste Branche wieder stabilisiert. Und der zweitwichtigste Industriesektor, die Nahrungs- und Futtermittelherstellung, habe sich auf einem hohen Niveau eingependelt. Grund zur Entwarnung gebe es aber nicht. Ob das verarbeitende Gewerbe einen Beitrag zum niedersächsischen Wirtschaftswachstum leisten wird, hängt laut Brezski von der Entwicklung der Energiepreise und Lieferengpässe ab. Sollte hier keine Normalisierung eintreten, könne die Industrie auch keinen signifikanten Beitrag zum Wirtschaftswachstum leisten. Lips merkte dazu an: „Die Störung der Lieferketten scheint abzunehmen. Viele Güter werden wieder ausgeliefert, aber wir sind noch längst nicht wieder beim langfristigen Normal angelangt.“

Niedersachsen verliert an Wohlstand

„Seit Ende August fallen die Gaspreise kontinuierlich nach unten“, stellte Lips fest. Trotzdem bleibe Energiesparen die wichtigste Aufgabe für Unternehmen und Privatleute, denn eine Gasmangellage im Winter 2023/24 sei noch nicht ausgeschlossen. „Wir haben bei den energieintensiven Unternehmen gesehen, dass die Produktion erheblich gedämpft wurde. Das war aber eher ein unfreiwilliger Einsparerfolg“, sagte der Wirtschaftswissenschaftler. Viele Unternehmen hätten ihre Produktion vor allem aus wirtschaftlichen Überlegungen heraus verringern müssen. „Gerade da, wo der Energieverbrauch besonders hoch ist, ist auch die Drosselung der Produktion besonders hoch gewesen.“ Das deutsche Wirtschaftswachstum von 1,9 Prozent im Jahr 2022 sei angesichts dieser Energiepreisentwicklung nur mit Vorsicht zu genießen. „Es macht keine Aussage darüber, welchen Wohlstandsverlust wir haben“, stellte Lips klar. Um welche Milliardenbeträge es dabei geht, vermag Lips nicht zu sagen.


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Brezski verwies in diesem Zusammenhang jedoch auf das niedersächsische Außenhandelsdefizit, das von Januar bis Oktober 2022 bei rund 60 Milliarden Euro lag. Die Unternehmen in Niedersachsen importierten Güter im Wert von 140,5 Milliarden Euro (plus 68,6 Prozent), während sie Waren im Wert von 80,2 Milliarden Euro ausführten (plus 11,5 Prozent). Deutschland insgesamt habe dagegen im selben Zeitraum ein Außenhandelsplus ausgewiesen. Die niedersächsischen Exporte in die Russische Föderation brachen um 35,9 Prozent ein und auch nach China, Italien, Spanien und Tschechien wurden weniger Waren ausgeführt. Zweistellige Exportzuwächse gab es nach Frankreich, Polen, Österreich, Belgien, ins Vereinigte Königreich und in die USA. Beim größten Handelspartner Niederlande betrug das Exportplus 2,7 Prozent. Insgesamt stellte Brezski im niedersächsischen Außenhandel folgenden Trend fest: „Die Unternehmen achten mehr auf die Resilienz in ihren Wertschöpfungsketten.“

Eberhard Brezski (von links), Christian Lips und Christoph Dieng stellen den Jahresausblick der Nord/LB für das Jahr 2023 vor.

Fachkräftemangel wird schlimmer

Die Beschäftigtenzahlen sind 2022 in nahezu allen niedersächsischen Wirtschaftsbereichen leicht gestiegen. Gleichzeitig ist die durchschnittliche Vakanzzeit, also die Dauer für eine erfolgreiche Stellenbesetzung, auf 209 Tage angewachsen (plus 18,8 Prozent). „Wir haben ein massives Qualifikationsproblem, das nicht so einfach aufzuheben ist“, warnte Brezski und prophezeite: „Der Fachkräftemangel wird uns in allen Branchen massiv begleiten.“ Überrascht zeigte sich der Wirtschaftsanalyst dagegen von den Umsatzzuwächsen bei Handel und Gastgewerbe. Das Aussterben der Innenstädte sei zwar eine Entwicklung, die man nicht wegdiskutieren könne. 2022 verzeichneten die Waren- und Kaufhäuser jedoch ein Umsatzplus von 15,1 Prozent, während Online- und Versandhandel um 9,1 Prozent zurückgingen.

Bei den niedersächsischen Herbergsbetrieben stieg der Umsatz um 55 Prozent, in der Gastronomie um 29,9 Prozent. „Da zeigt sich ein sehr deutlicher Nachholeffekt aus der Corona-Pandemie“, sagte Brezski. Das Baugewerbe verzeichnete zwar auch einen Umsatzanstieg. „In allen Messpunkten liegen die Preis- und Baukostensteigerungen deutlich über 19 Prozent. Unterm Strich liegt das Realwachstum beim Bau bei nahezu Null“, stellte der Experte für Sektor- und Regionalwirtschaftliche Analysen klar. Aufgrund der sinkenden Nachfrage beim Wohnungsbau könnten Bauunternehmen daher nur auf verstärkte Ausschreibungen der öffentlichen Hand hoffen.

Konjunkturstimmung hellt sich auf

„Die Wirtschaftsstimmung hat sich deutlich aufgehellt. Der übermäßige Pessimismus nimmt sukzessiv ab“, fasste Lips die Ergebnisse mehrerer Konjunkturumfragen verschiedener Institute zusammen. Er räumte ein, dass die Rezessionssorgen der Wirtschaftsforscher im vergangenen Jahr etwas übertrieben gewesen seien. „Das war teilweise Fifty Shades of Black“, scherzte der Ökonom. Dass es besser kam als ursprünglich gedacht, machte er dabei an drei Faktoren fest: Am milden Herbst und Winter, an der schnellen Anpassungsfähigkeit der Unternehmen sowie an den massiven staatlichen Maßnahmen. „2022 war ein Jahr im Task-Force-Modus, 2023 ist das neue Normal“, sagte Nord/LB-Vorstandsmitglied Christoph Dieng.

Als ein Indiz für die wiedergewonnene Zuversicht wertete er auch die Tatsache, dass der deutsche Aktienindex DAX inzwischen wieder auf über 15.000 Punkte geklettert ist. „Da ist schon viel optimistische Erwartungshaltung eingepreist“, sagte der Chief Risk Officer (CRO). Er selbst zeigte sich dahingehend zuversichtlich, dass Niedersachsen von der gestiegenen Nachfrage nach nachhaltiger Energie besonders profitieren wird. „Die Industrie geht dahin, wo der Wind bläst“, sagte Dieng. Dass energieintensive Unternehmen aus Kostengründen ins Ausland abwandern, halten die Nord/LB-Experten zwar für möglich. „Die hohen Energiekosten setzen mitunter aber auch ungeahnte Kräfte frei“, sagte Brezski. Im Gegensatz zu anderen Bundesländern, die einen höheren Fokus auf Grundstoffproduktion hätten, sei Niedersachsen hier eher weniger betroffen. 

Inflation bleibt hartnäckig

 „Die Inflation dürfte sich trotz einer rückläufigen Tendenz in 2023 als hartnäckig erweisen. So richtig abwärts geht es aus unserer Sicht erst ab März“, sagte Lips. Erst dann würden sich die sinkenden Energiepreise auch sichtbar auf die Verbraucherpreise auswirken. Entscheidend für die Inflationsentwicklung ist laut dem Chefvolkswirt die Frage, ob eine Preis-Lohn-Spirale in Gang kommt. Tarifforderungen in zweistelliger Höhe könnte zwar solche Zweitrundeneffekte lostreten. „Wir denken aber nicht, dass es zu diesen Abschlüssen kommt. Die werden geringer ausfallen“, meinte Lips. Gemäß der Prognose der Nord/LB wird die Inflationsrate in Deutschland für 2023 nur noch 6,5 Prozent betragen und zum Jahreswechsel gar auf 4 Prozent fallen. Das von der EZB anvisierte Inflationsziel von 2 Prozent sehen die Landesbankexperten erst einmal nicht. „Das ist wie beim Marathonlauf. Die letzten zwei Kilometer beißen so richtig“, sagte Lips.



EZB steht vor Dilemma

Der Europäischen Zentralbank (EZB) bescheinigen die Finanzexperten aus Hannover ein gutes Krisenmanagement. „Der Euro hat sich wieder stabilisiert. Da hat die EZB einen guten Job gemacht“, lobte CRO Dieng. Bei der weiteren Zinspolitik stehe die Zentralbank allerdings vor einem Dilemma: Zu starke Zinserhöhungen könnten dafür sorgen, dass die Inflation aus dem Ruder läuft. Zu niedrige Zinsschritte würden die Gefahr einer Rezession ankurbeln. „Hier muss man sehr fein austarieren, bisher ist das aber ganz gut gelungen“, sagte Dieng. „Es geht darum, jeden Anflug einer Verstetigung des Inflationsimpulses im Keim zu ersticken“, ergänzte Lips. Er zeigte sich zuversichtlich, dass die EZB diese Situation in den Griff bekomme. Die Landesbank rechnet fest mit zwei weiteren Leitzinserhöhungen um 50 Basispunkte. „Im Mai kommt vielleicht nochmal ein kleinerer Zinsschritt dazu“, sagte Lips. Zinssenkungen könnten aber bereits Ende 2023 wieder ein Thema werden.