Björn Bertram hat 20 Jahre lang beim Landesjugendring gearbeitet, zuerst als Referent für Jugendpolitik, in den vergangenen acht Jahren dann als Landesgeschäftsführer. Bevor er im Oktober zu neuen Ufern aufbricht, wagt er im Interview mit Niklas Kleinwächter einen persönlich geprägten Blick zurück: Ein Gespräch über fehlende Hauptamtliche und die Langzeitfolgen der Corona-Jahre.

Björn Bertram (links) spricht mit Niklas Kleinwächter über die aktuelle Lage der Jugendarbeit in Niedersachsen. | Foto: Lada

Rundblick: Herr Bertram, 2002 haben Sie angefangen, beim Landesjugendring Niedersachsen zu arbeiten. Vor welchen Herausforderungen stand die Jugendarbeit in dieser Zeit?

Bertram: Nach dem Regierungswechsel 2003 hatte die neue Landesregierung zahlreiche finanzielle Mittel gestrichen, einige Programme der Jugendarbeit wurden damals eingestellt. Besonders die Jugendarbeit in strukturschwachen Gebieten musste damals darunter leiden. Es wurde ein großer Trend deutlich, der sich in den vergangenen Jahren verstärkt hat: Die hauptamtliche Unterstützung geht immer weiter zurück und die Ehrenamtlichen sind zunehmend auf sich selbst gestellt.

Rundblick: Wie ging es in den darauffolgenden Jahren weiter?

Bertram: Es gab immer neue Anforderungen, die ich an sich alle notwendig und richtig fand. Aber in der Summe haben sie natürlich zu einer höheren Belastung geführt. Ich meine damit etwa die Herausforderungen durch eine verstärkte Prävention gegen sexualisierte Gewalt oder die Einführung des verpflichtenden Führungszeugnisses in der Jugendarbeit. Ausgelöst wurde das durch den Missbrauchsfall auf einer Sportfreizeit auf der niederländischen Insel Ameland im Jahr 2010, der uns alle erschüttert hat. Der Vorfall hat dann zurecht dazu geführt, dass die Politik erwartet hat, dass die Jugendarbeit darauf reagiert. Zusätzlich kamen dann noch neue Datenschutzregeln, bürokratischere Antragsverfahren sowie Integration und Inklusion. Die Aufgaben für die Jugendarbeit nahmen immer weiter zu, ohne dass der Personalschlüssel einmal wirklich angefasst wurde oder dafür dauerhaft zusätzliche und ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt wurden.

Rundblick: Wenn die Hauptamtlichen an ihre Grenzen kommen, sind die Ehrenamtlichen stärker gefordert. Gelingt das?

Bertram: Jugendarbeit lebt davon, dass sich junge Menschen engagieren, mitmachen und Verantwortung übernehmen. Aber wir erleben auch, dass sich diese Engagement-Phase immer weiter verkürzt. Waren es früher noch fünf bis sechs Jahre, die sich ein junger Mensch im Verein einbringt, sind es jetzt oft nur noch zwei oder drei Jahre. Das liegt auch daran, dass sich die Erwartungen an die Mobilität verändert haben: Für die Ausbildung, das Studium oder den Beruf wechseln junge Erwachsene immer häufiger den Wohnort und brechen in der alten Heimat die Zelte ab. In den Verbandsstrukturen vor Ort bricht dann schnell etwas weg.

Foto: Lada

Rundblick: Wie viele jugendliche Ehrenamtliche kommen denn derzeit so auf einen hauptamtlichen Jugendpfleger?

Bertram: Die nackten Zahlen sehen tatsächlich beeindruckend aus: Auf knapp über 50 Bildungsreferenten, die vom Land gefördert werden, kommen etwa 50.000 Jugendleiter in Niedersachsen. Knapp die Hälfte davon hat eine Jugendleiter-Card und von denen sind etwa drei Viertel in Angeboten der Mitgliedsverbände des Landesjugendrings aktiv. Diese Zahlen zeigen: In der Jugendarbeit kann man eigentlich mit relativ wenig Aufwand eine ganze Menge wuppen. Das sollte die Politik jetzt als Hebel erkennen – und diesen auch nutzen.

„Durch die Corona-Jahre fehlen uns derzeit de facto zwei Jahrgänge von Jugendleitern.“

Björn Bertram

Rundblick: Wie meinen Sie das?

Bertram: Durch die Corona-Jahre fehlen uns derzeit de facto zwei Jahrgänge von Jugendleitern. Es konnten kaum Schulungen angeboten werden – aber die Älteren sind dann trotzdem weitergezogen. Aus dieser Lage heraus eine Wiederbelebung aller örtlichen Gruppen zu schaffen, ist eine der größeren Herausforderungen, vor denen die Jugendarbeit derzeit steht.

Foto: Lada

Rundblick: Wie stellen Sie sich das vor?

Bertram: Was wir nun brauchen, sind hauptamtliche Unterstützungsstellen, die bei den kommunalen Jugendringen, regionalen Gliederungen der Jugendverbände oder den Landkreisen angesiedelt sein könnten. Diese Spezialisten können dann Jugendliche vor Ort dabei unterstützen, Vollversammlungen durchzuführen, Förderanträge zu stellen oder Probleme in ihren Gruppen zu lösen – also ganz konkret Ehrenamtliche dort unterstützen, wo die Landesgeschäftsstellen der Verbände räumlich zu weit weg sind. Es braucht jetzt eine Art von Initialzündung und Stärkung für die nächsten vielleicht fünf Jahre, damit die von ehrenamtlichen Jugendlichen getragene Jugendarbeit vor Ort wieder in Gang kommt.

Rundblick: Gibt es denn derartige Stellen nicht bereits in den Kommunen?

Bertram: Offiziell ja, aber die Landkreise sind da ganz unterschiedlich gut aufgestellt. Erwartet wird dann von den Stelleninhabern, dass sie sowohl die Angebote der offenen Jugendarbeit, der Jugendverbände und Inklusion betreuen, dass sie den Jugendschutz stärken, Bildungsregionen ausbauen und Beteiligung von Jugend sicherstellen. Das ist einfach zu viel für eine einzige Person. Und wir wissen noch gar nicht, welche Auswirkungen die Corona-Jahre auf die Sozialkompetenz der Kinder hatten. Diese möglichen Entwicklungshemmnisse der „Corona-Generation“ müssen wir als Gesellschaft alle auf dem Schirm haben. Eine stabile Jugendarbeit kann dann viel leisten, wenn die Probleme in einigen Jahren zu Tage treten – aber die muss dann eben auch wieder richtig in Gang gekommen sein.

Rundblick: Wenn Sie nun Bilanz über die vergangenen 20 Jahre ziehen müssten, wie fiele die aus?

Bertram: Nach meiner festen Überzeugung hat die Jugendarbeit in Niedersachsen in den letzten 20 Jahren mit wenig finanziellen Ressourcen viel geleistet, tolle Projekte umgesetzt und sich kontinuierlich an die Bedürfnisse junger Menschen und die gesellschaftlichen Veränderungen angepasst und jungen Menschen dadurch unverzichtbare Bildungs- und Freizeitchancen ermöglicht. Diese braucht es in den kommenden Jahren ganz besonders.