Die Spitzenkandidaten der Landtagswahl (von links): Jessica Kaußen, Stephan Weil, Julia Hamburg, Stefan Birkner, Bernd Althusmann und Stefan Marzischewski.| Foto: Linke, SPD, Grüne, FDP, CDU, AfD

Die Nervosität steigt, und in wenigen Tagen herrscht Klarheit. Wer wird die Landtagswahl als Sieger verlassen, wer muss herbe Verluste einstecken und wer kann Zugewinne verbuchen? Diese sechs Spitzenkandidaten der Parteien, die Chancen auf Einzug in das Landesparlament haben, werden hier näher porträtiert.


Stephan Weil | Foto: Büro Weil

Stephan Weil, der Vorsichtige

Profil: Stephan Weil ist 63 Jahre alt, Jurist und seit bald zehn Jahren Ministerpräsident von Niedersachsen. Vorher war er sieben Jahre Oberbürgermeister von Hannover, davor neun Jahre Kämmerer in der Landeshauptstadt. Fast 30 Jahre hat er im öffentlichen Dienst gearbeitet, gilt als Verwaltungsexperte und hat ein Faible für Energiefragen und auch für Fragen der sozialen Sicherung. Sein Führungsstil ist sehr stark auf Kontrolle ausgerichtet, sein öffentliches Auftreten ist von einer starken Selbstkontrolle geprägt.

Charakter: Leute, die ihn kennen, schätzen seine verlässliche Art. Er vermeidet es weitgehend, in Hintergrundgesprächen über andere negativ zu sprechen. Eine gewisse Bescheidenheit und Geduld ist ihm auch nach bald zehn Amtsjahren als Ministerpräsident eigen geblieben. Aber er neigt auch zu Alleingängen. Enge Weggefährten vermissen bei ihm, dass er sie an seinen strategischen Überlegungen teilhaben lässt. Unpopuläre Schritte vermeidet er – und weigert sich offenbar auch, solche perspektivisch vorzubereiten.

Aussichten: Wenn Weil die Landtagswahl trotz mächtigen Gegenwinds der Ampel-Koalition aus Berlin gewinnt, ist er der Star der SPD. Dabei hatte er es 2019 noch abgelehnt, in die Bundespolitik zu gehen und dort eine Rolle zu spielen. Wenn seine SPD deutlich verlieren sollte, sind seine Tage in der Politik gezählt – und er würde sich wohl zurückziehen.

Plus und Minus: Er ist umsichtig, interessiert und kenntnisreich. Aber ihm fehlt der Mut, mit unpopulären Schritten nötige Reformen anzupacken. Probleme löst er am liebsten mit dem Versprechen, der Staat werde sich darum kümmern und Geld dafür geben.


Bernd Althusmann | Foto: Christian Wilhelm Link

Bernd Althusmann, der Distanzierte

Profil: Der Sohn eines Pastors und einer Krankenschwester schlug nach dem Abitur zunächst eine Bundeswehrlaufbahn ein, studierte Pädagogik und schrieb später seine Doktorarbeit mit betriebswirtschaftlicher Thematik. 1994 wurde der heute 55-Jährige erstmals in den Landtag gewählt, stieg im Laufe der Jahre auf zum Parlamentarischen Geschäftsführer, Staatssekretär und dann Kultusminister. Zwischen 2013 und 2016 war er in Namibia, leitete das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung. Nach der Rückkehr wurde er CDU-Landesvorsitzender und Spitzenmann  der Partei für den Landtag, seit 2017 ist er Wirtschaftsminister. Althusmann hat zuweilen ein etwas distanziertes Auftreten, was ihn unnahbar oder zu wenig empathisch erscheinen lässt. Im Wahlkampf konnte er das allerdings ablegen.

Charakter: Wenn er gut vorbereitet ist, kann Althusmann in Diskussionen brillant auftreten und die Kritiker mit Fakten stellen. Die Jahre in Afrika haben ihn insoweit geprägt, als dass sein politischer Horizont nicht auf die Landespolitik beschränkt, sondern durchaus global angelegt ist. Althusmann umgibt eine gewisse Bescheidenheit. Er genießt es nicht unbedingt, im Mittelpunkt zu stehen. In den Details der landespolitischen Diskussionen ist er sattelfest und agiert zielsicher.



Aussichten: Sollte seine CDU vor der SPD liegen am Wahlabend, hängt für die Tage danach viel von seinem Verhandlungsgeschick ab – Schwarz-Grün erscheint dann immerhin als Möglichkeit. Wenn es zu Rot-Grün in Niedersachsen kommt, dürfte Althusmann die politische Ebene Richtung Berlin oder Brüssel ändern wollen. Von der Härte der CDU-Niederlage hinge es dann ab, wie rasch er sich von der Landespolitik verabschiedet. Damit ist alles denkbar, der Aufstieg zum Ministerpräsidenten oder auch sein Ausscheiden aus der Politik.

Plus und Minus: Dass er führen kann und das politische Geschäft versteht, hat Althusmann vor zehn Jahren als Kultusminister schon bewiesen, jetzt auch wieder als Wirtschaftsminister. Bisher hat er es aber noch nicht geschafft, wirklich populär und beliebt zu werden, auch in den eigenen Reihen nicht.


Julia Hamburg | Foto: Ole Spata

Julia Hamburg, die Zurückhaltende

Profil: Eine große Rednerin ist Julia Hamburg nicht – aber großen Respekt bei den Grünen genießt die 36-Jährige doch. 2013, als Stephan Weil die erste rot-grüne Landesregierung bildete, gehörte sie schon zum Spitzenteam, sie war damals Landesvorsitzende der Partei. Zuvor war sie über die Grüne Jugend in die Landespolitik gekommen. In Hannover geboren und aufgewachsen, studierte sie in Göttingen Politik, Philosophie und deutsche Philologie. Kaum in den Landtag gekommen, zog sie sich nach der Geburt ihres zweiten Kindes und einer folgenden Erkrankung für einige Monate zurück. Nach ihrer Rückkehr betrachtete sie die Dinge mit mehr Demut und freute sich auch über kleine Erfolge, sagt sie. In der Fraktion der Grünen, die sie seit 2020 führt, gilt Hamburg als Teamarbeiterin und Strategin.


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Charakter: Hamburg hat das Geschick, verschiedene Strömungen zu vereinen und Konflikte auszugleichen. Dabei ist sie bisher über ihre linke Verankerung nicht hinausgewachsen. Kritiker meinen, ihr Vermittlungswille sei so ausgeprägt, dass sie dabei zuweilen selbst ihre eigene Position und ihre eigenen Ansprüche vergesse. Sie ist schon ehrgeizig, aber nicht zu verbissen. Als starke Leitfigur der niedersächsischen Grünen kann sie nicht gelten, denn solche Personen kennt der Landesverband nicht – vielleicht früher mit Ausnahme von Jürgen Trittin.

Aussichten: Die Grünen wollen regieren – und Julia Hamburg will dann Ministerin werden. Was den Ressortwunsch angeht, wird gegenwärtig kräftig hinter den Kulissen taktiert. Sie hat eine Neigung zur Schulpolitik. Mit einem Zuwachs an Stimmen ist bei den Grünen sicher zu rechnen. Sollte es nicht zur Regierungsbeteiligung reichen, dürfte sie ihre Arbeit im Landtag fortsetzen. Sie kann dann damit rechnen, weiter von der Partei getragen zu werden.

Plus und Minus: Julia Hamburg ist pragmatisch genug, ideologisch verblendete Positionen nur so lange zu vertreten, wie es taktisch sinnvoll erscheint. Von daher gilt sie, obwohl links, als klassische Realpolitikerin, wie einst die „Realos“ genannt wurden. Aber ob sie auch die Autorität hätte, in einem Konfliktfall mit einer emotionalen Ansprache die Mehrheiten hinter sich zu bringen, ist jedoch fraglich.


Stefan Birkner | Foto: Büro Birkner

Stefan Birkner, der Advokat

Profil: Stefan Birkner ist seit elf Jahren Vorsitzender der Niedersachsen-FDP und seit fünf Jahren Chef der FDP-Landtagsfraktion. Der Jurist, der zwischen 2011 und 2013 auch Umweltminister in Niedersachsen war, ist ein scharfzüngiger, zuspitzender und zuweilen angriffslustiger Redner im Parlament. Der 49-Jährige hat über diese Gabe ein Profil als starker Oppositionspolitiker entwickelt. Derzeit ist er in der eigenen Partei als Führungsfigur unumstritten. Das war nicht immer so. Vor allem wird es Birkner angelastet, 2017 nicht in Gespräche über eine Ampel-Koalition mit SPD und Grünen eingewilligt, sondern auf der Oppositionsrolle bestanden zu haben. Nachdem er daraufhin im eigenen Landesverband unter Rechtfertigungsdruck geraten war, änderte er seine Position. Vor der aktuellen Landtagswahl schließt er keine Regierungsbeteiligung an der Seite einer demokratischen Partei aus, neigt in der Schlussphase des Wahlkampfs aber deutlich zu einer Ampel-Koalition.


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Charakter: Birkner wird als kühl und rational beschrieben, das Umfeld schätzt seine analytischen Fähigkeiten und seine Formulierungskraft. Auf der anderen Seite rügt der politische Gegner zuweilen die Schärfe seiner Angriffe, die einige – wie etwa Ministerpräsident Stephan Weil und Innenminister Boris Pistorius – schon als verletzend empfunden haben.

Aussichten: Wenn die FDP in der nächsten Regierung vertreten sein wird, dürfte Birkner ein Ministerium übernehmen – etwa das für Wissenschaft. Er würde bestrebt sein, das Profil der FDP in der Koalition zur Geltung zu bringen, ohne die Koalition selbst damit zu schwächen. Falls die FDP in der Opposition bleibt, könnte Birkner übergangsweise Fraktionschef bleiben, womöglich könnte er dann auch ein anderes Betätigungsfeld suchen.

Plus und Minus: Kritische Stimmen sagen, Birkners striktes Nein zu einer Ampel im Jahr 2017 habe so starken Gegenwind erzeugt, dass er heute voreilig zu jeglicher Chance auf Regierungsbeteiligung ja sagen würde. Auf der anderen Seite achtet Birkner sehr darauf, dass Themen seiner Partei in der Regierungspolitik nicht zu kurz kommen. Koalitionsverhandlungen mit ihm dürften nicht langweilig werden, da er auf die Details achtet.


Stefan Marzischewski | Foto: AfD

Stefan Marzischewski, der Kommunalpolitiker

Der AfD-Spitzenkandidat Stefan MarzischewskiDrewes ist einer der wenigen in der niedersächsischen AfD, der in dieser zerstrittenen Partei Sympathien auf allen Seiten genießt. Es liegt an seiner betont bürgerlichen Erscheinung. Er ist Arzt, der einzige Radiologe mit Praxis im Kreis Gifhorn, wie er sagt. Außerdem engagiert sich der 56-Jährige seit langem in der Kommunalpolitik. Er pflegt einen betont sachlichen Stil. Nach der Wahl könnte er durchaus Chef der neuen Landtagsfraktion werden, falls nicht Klaus Wichmann den Vortritt erhält. Aussichten auf eine Koalition oder auch nur Kooperation mit anderen Parteien gibt es für die niedersächsische AfD indes nicht – sie scheinen auf die Oppositionsrolle festgelegt zu sein.


Jessica Kaußen | Foto: Linke

Jessica Kaußen, die Bodenständige

Die 32-jährige Ingenieurin Jessica Kaußen aus Laatzen, Mutter einer achtjährigen Tochter, ist die Spitzenkandidatin der Linkspartei für die Landtagswahl. Sie zählt zum Flügel der Pragmatiker, die eigentlich in der Landespartei keinen besonders starken Stand haben. Kaußen hat kommunalpolitische Erfahrung in der Regionsversammlung in Hannover, sie könnte durchaus die Führung einer neuen Landtagsfraktion übernehmen, falls die Linken in den Landtag kommen. Koalitionsoptionen allerdings zeichnen sich für die Linke nicht ab – vor allem nicht, seit die Partei auf Bundesebene von tiefen Streitigkeiten geprägt ist.