Am 6. Juli stimmt der Deutsche Bundestag über zwei konkurrierende Gesetzentwürfe zur Sterbehilfe ab, nachdem das Bundesverfassungsgericht 2020 das bis dahin geltende Recht für verfassungswidrig erklärt hat. Die Rundblick-Redaktion hat sich die in Rede stehenden Entwürfe mit Oberlandeskirchenrätin Kerstin Gäfgen-Track angesehen. Wir sprachen mit der Bevollmächtigten der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen darüber, was den Wert der Debatte über die Sterbehilfe ausmacht, welchen Gesetzentwurf die Kirchen bevorzugen würden und wie sich das Land auf die bevorstehenden Neuregelungen des assistierten Suizids einstellen müsste.

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Rundblick: Frau Gäfgen-Track, wie bei ethischen Grenzfragen üblich, ist bei dieser Abstimmung die Fraktionsdisziplin ausgesetzt. Die Abgeordneten haben sich in Gruppen zusammengeschlossen und Anträge formuliert. Was erwarten Sie nun von der 90-minütigen Debatte, die am kommenden Donnerstag auf der Tagesordnung steht? Wird das eine Sternstunde des Parlaments?

Gäfgen-Track: Ich würde es mir wünschen. Allerdings habe ich die Sorge, dass es eine sehr zurückgenommene Debatte wird.

Rundblick: Wie kommen Sie darauf?

Gäfgen-Track: Die Debatte über die Sterbehilfe wurde in den vergangenen Jahren seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gesamtgesellschaftlich und auch im Parlament zu wenig geführt. Dabei ist es ein so wichtiges Thema, das jeden etwas angeht. Aber darin liegt womöglich genau das Problem: Jeder hat persönliche Erfahrungen damit, wie jemand gestorben ist, gelitten oder nicht gelitten hat. Und jeder stellt sich dabei auch die Frage: Was wird einmal mit mir? Es ist eine ethische Problematik an sich, aber es geht auch um eine persönliche Betroffenheit. Das sind sehr persönliche Ängste und Sorgen, über die man schon gar nicht öffentlich sprechen mag.

Rundblick: Woran liegt das?

Gäfgen-Track: Leiden, Sterben und Tod sind vielfach Tabuthemen. Die Menschen wollen zuhause im Kreise der Familie sterben, aber die allermeisten sterben im Krankenhaus. Dass Sterben zum Leben dazugehört, diese Kompetenz haben wir oft nicht mehr. Früher hat das ganze Dorf oder die gesamte Nachbarschaft Abschied genommen, wenn jemand gestorben ist. Dann wurde der Verstorbene von einem Geistlichen ausgesegnet, bevor er vom Bestatter aus dem eigenen Heim abgeholt wurde. Dieses Ritual des Abschiednehmens gibt es jetzt so gut wie gar nicht mehr. Stattdessen gibt es ein Hinausdrängen des Todes: Beisetzungen werden im engsten Familienkreis durchgeführt, einen „Leichenschmaus“ möchte man nicht mehr, Gottesdienste auch nicht. Man möchte sich dem Tod nicht stellen.

Niklas Kleinwächter (links) und Klaus Wallbaum vom Politikjournal Rundblick haben Kerstin Gäfgen-Track zum Gespräch getroffen. | Foto: evlka

Rundblick: Haben Sie eine Idee, was man gegen dieses Tabuisieren des Todes tun kann?

Gäfgen-Track: Als Gesellschaft müssen wir wieder den Mut haben, über Sterben und Abschied nachzudenken. Dazu gehört auch die Frage: Was ist der Wert eines Lebens? Man sollte sich darauf vorbereiten, dass man einmal Abschied nehmen muss. Dann muss man davor auch weniger Angst haben. Stattdessen erleben wir zunehmend, dass man versucht, durch die Wunder der Technik wie beispielsweise des Transhumanismus das eigene Gehirn „unsterblich“ zu stellen.

„Als Gesellschaft müssen wir wieder den Mut haben, über Sterben und Abschied nachzudenken.“

Kerstin Gäfgen-Track

Rundblick: Wir haben schon häufig miteinander über die Wirkung der Corona-Pandemie auf die Gesellschaft gesprochen. Unser Eindruck war, dass die damalige Beschäftigung mit dem Sterben und auch die Empörung über die ausgefallenen Trauerfeiern den Wert des Abschiednehmens wieder in den Fokus gerückt hat.

Gäfgen-Track: Während der Pandemie sind Menschen einsam gestorben. Das hat aber nicht die Wirkung gehabt, dass sich nun mehr Menschen damit beschäftigen würden. Am Ende ist es auch ein Kostenfaktor, wie wir das Lebensende gestalten können: Wie können wir Pflege so ausgestalten, dass Menschen gut begleitet werden und nicht nur „satt und sauber“ sind? An denen, die in der Pflege arbeiten, liegt es nicht, im Gegenteil. Aber es sind zu wenige. Über die gute Finanzierung der Pflege wird aber wieder viel zu wenig gesprochen und zu wenig dafür getan.

Oberlandeskirchenrätin Kerstin Gäfgen-Track erwartet zum Thema Sterbehilfe eine zurückgenommene Debatte im Bundestag. | Foto: Struck

Rundblick: Im Bundestag werden kommende Woche zwei Gesetzentwürfe vorgelegt. Hinter dem einen steht federführend der SPD-Politiker Lars Castellucci, der zweite Entwurf ist eine Kombination aus den Entwürfen zweier Gruppen einmal um Renate Künast (Grüne) sowie um Katrin Helling-Plahr (FDP). Bevorzugen Sie einen der beiden Entwürfe?

Gäfgen-Track: Ich möchte hier keine Empfehlungen aussprechen. Ich habe lediglich Kriterien formuliert, die ich mit den endgültigen Entwürfen abgleichen kann: Wird das Leben geschützt? Wo wird beraten? Wie läuft die Beratung ab?

Rundblick: Worin unterscheiden sich die beiden Gesetzentwürfe entlang dieser Kriterien?

„Die Suizidprävention ist derzeit unterfinanziert, da muss deutlich mehr Geld investiert werden.“

Kerstin Gäfgen-Track

Gäfgen-Track: Der Entwurf von Künast/Helling-Plahr hat eindeutig das Ziel, das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben durchzusetzen. Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings in seinem Urteil auch die Möglichkeit aufgezeigt, ein Schutzkonzept aufzubauen. Das kommt in diesem Entwurf nicht so vor, was ich kritisch sehe. Wenn jemand nach einer offenen Beratung und dem Angebot von Unterstützung dennoch Sterbehilfe als einzigen Ausweg aus seinem Leiden sieht, dann akzeptieren wir diese Entscheidung auch als Kirche. Aber bei vielen ist der Sterbewunsch nicht langfristig, sondern liegt etwa im Verlust des Ehepartners oder sogar in einer Depression begründet. Diese Fälle müssen erkannt und den Betroffenen muss Unterstützung und Hilfe angeboten werden.

Rundblick: Wie sollte dies geschehen?

Gäfgen-Track: Entscheidend ist dafür ein flächendeckendes Präventionssystem, ebenso wie eine gut ausgebaute Palliativmedizin und Hospizarbeit. Eigentlich müsste zeitgleich mit dem Sterbehilfegesetz auch ein Suizidpräventionsgesetz beschlossen werden. Die Suizidprävention ist derzeit unterfinanziert, da muss deutlich mehr Geld investiert werden. Zudem ist es uns wichtig, dass die verpflichtende Beratung bei einem Sterbewunsch, die beide Gesetzentwürfe im Prinzip vorsehen, nicht in speziellen Sterbehilfe-Beratungsstellen angeboten wird, sondern als Teil des Regelberatungssystems. Ansonsten ist zu erwarten, dass in diesen Gesprächen wohl eher nicht zum Leben hin beraten wird.

Oberlandeskirchenrätin Kerstin Gäfgen-Track wünscht sich ein flächendeckendes Präventionssystem. | Foto: Jens Schulze

Rundblick: Sieht der Castellucci-Entwurf eine solche Beratung vor?

Gäfgen-Track: Wie der endgültige Gesetzentwurf aussehen wird, ist möglicherweise noch offen. Es sollen noch Anregungen aus den Beratungen eingearbeitet werden, heißt es. Allerdings sind die Hürden bei diesem Gesetzentwurf höher, da beispielsweise zwei psychiatrische Fachgutachten sowie ein ergebnisoffenes Beratungsgespräch vorgeschrieben werden sollen. Der Entwurf regelt allerdings auch viele Aspekte strafrechtlich, worauf der Entwurf von Künast/Helling-Plahr verzichtet. Hier kann überlegt werden, ob das so sein muss.


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Rundblick: Die große Frage hinter der Sterbehilfe lautet doch: Wie autonom ist der Mensch und wie viel Selbstbestimmung verträgt die Gesellschaft?

Gäfgen-Track: Jeder Mensch ist ein relationales Wesen, ich bin Mensch in Beziehung zu anderen Menschen – zu Familie, Freunden, Kollegen, Nachbarn. Man ist nicht nur Mensch für sich allein. Ich persönlich glaube auch noch an eine Beziehung zu Gott, aber das ist hier nur „on top“ und für mich persönlich entscheidend. Beziehungen sind das, was das Leben reich macht – und sie sind die beste Suizidprävention.

Rundblick: Was glauben Sie, welcher Entwurf sich durchsetzen wird?

Gäfgen-Track: Das ist derzeit kaum zu sagen. Mir ist gesagt worden, dass viele Abgeordnete noch gar nicht wüssten, wie sie sich entscheiden wollen. Es ist auch möglich, dass keiner der Entwürfe eine Mehrheit erhält. Sollte das passieren, wird man sich der Debatte stellen müssen, wieso man eigentlich keine Position dazu finden konnte. Vielleicht ist das dann der Anstoß für eine breite gesellschaftliche Debatte über die Sterbehilfe.