„Wenn man Unternehmertum fördern will, muss man die Angst vor Risiken abbauen“
Die Ausbildung in einigen Handwerksberufen läuft nicht so richtig rund: Zu diesem Schluss kam der kürzlich veröffentlichte Ausbildungsreport des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), der als eine Art „Ausbildungs-TÜV“ gilt. Diese Einschätzung will Hildegard Sander, Hauptgeschäftsführerin der Landesvertretung der Handwerkskammern (LHN) Niedersachsen, so nicht stehen lassen. Gemeinsam mit Tobias Roeder, Bildungsexperte und stellvertretender LHN-Hauptgeschäftsführer, erklärt sie im Rundblick-Gespräch, weshalb diese Kritik an den handwerklichen Ausbildungsberufen wenig Grundlage hat, warum das Handwerk systemrelevant ist und welche politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen es zu meistern gilt, um die Jugend wieder stärker für das Handwerk zu begeistern.

Rundblick: Frau Sander, Sie haben gesagt: „Wir müssen reden.“ Auslöser war, dass wir über die Ausbildung in „traditionellen Handwerksberufen“ geschrieben haben. Sie sagen, hinter dieser Formulierung steckt schon ein Vorurteil. Welches denn?
Sander: Häufig kursieren leider noch immer völlig überkommene Vorstellungen – auch in der pauschalen Verbindung des Handwerks mit dem Begriff traditionell. Die Ausbildung im Handwerk ist moderner, zeitgemäßer und in vielen Gewerken technisch sehr viel anspruchsvoller als viele denken. Das Thema Ausbildungsreife ist gerade auch aufgrund des Anspruches in den Betrieben ein großes Thema. Viele Betriebe fragen sich inzwischen selbst, wie sie junge Menschen besser unterstützen können. Auch wenn die schulischen Voraussetzungen der Auszubildenden nicht immer perfekt sind, ist ein Großteil sehr zufrieden mit den sozialen Kompetenzen wie Teamfähigkeit und Einsatzbereitschaft. Im Handwerk bekommt jede und jeder eine Chance – unabhängig von der Schulform. Die sogenannten soften Faktoren spielen gerade im Handwerk eine große Rolle.
Roeder: Handwerk ist heute in der Tat hochmodern, digitalisiert und innovativ. Die veraltete Vorstellung von einer staubigen Werkstatt hält sich hartnäckig, aber sie ist längst überholt. Nehmen Sie das Beispiel eines Dachdeckers oder einer Dachdeckerin: Wenn Sie heute jemanden fragen, ob er noch aufs Dach klettert, wird häufig gesagt: „Ja, natürlich, um die Dachziegel hochzubringen, aber vorher nicht mehr.“ Die Dachfläche wird heute per Satellitenfoto und Algorithmus vermessen. Die Vorstufe dafür waren Drohnen. Das sind Prozesse, die viele Menschen gar nicht mit dem Handwerk verbinden. Handwerk hat Tradition, doch es ist nicht per se traditionell, schmutzig, schwer oder schlecht bezahlt.
Rundblick: Woher kommt das Klischee, dass das Handwerk eher rückständig ist?
Sander: Wir sehen oft eine Lücke in der Darstellung der beruflichen Bildung. Viele Journalisten kommen aus einem akademischen Umfeld und haben wenig Berührungspunkte mit dem Handwerk. Da gibt es eine echte Repräsentationslücke, die sich auch bei den Medienschaffenden zeigt. Das Handwerk wird immer noch viel zu wenig sichtbar gemacht. Warum gibt es kaum Serien oder Filme, in denen Handwerksberufe im Zentrum stehen? Über den Geigenbauer oder Gerüstbauer könnte man doch auch tolle Geschichten erzählen. Stattdessen sehen wir immer dieselben Rollen: den Landarzt, den Kommissar, den Bergdoktor.
Rundblick: Welche Konsequenzen hat unsere gesellschaftliche Wahrnehmung von Handwerk?
„Wir haben über Jahrzehnte eine Akademisierung gepflegt und die Ausbildung aus dem Blick verloren.“

Sander: Wir haben über Jahrzehnte eine Akademisierung gepflegt und die Ausbildung aus dem Blick verloren. Die duale Ausbildung wird vielfach nicht als gleichwertige Alternative gesehen, obwohl sie eine entscheidende Säule unseres Bildungssystems ist. Wir sehen, dass die jungen Menschen von ihren Eltern stark beeinflusst werden. Viele Eltern raten zu einem Studium, weil sie das als Garant für wirtschaftlichen Erfolg betrachten. Doch diese Denkweise ist nicht mehr zeitgemäß. Viele Meister und Techniker verdienen mehr als Akademiker. Gleichzeitig besteht ein hoher Bedarf an qualifizierten Handwerkerinnen und Handwerkern. So wurde beispielsweise jahrzehntelang zu wenig in Infrastruktur und Digitalisierung investiert. Das fällt uns jetzt auf die Füße. Brücken, Straßen, Breitbandausbau, Energie- und Klimawende – all das erfordert Fachkräfte. Und da sind vor allem Handwerksberufe gefragt.
Roeder: Das Problem liegt auch an unserer Wahrnehmung von Wert und Bildung. Wir haben eine klare Präferenz für akademische Bildung, aber die berufliche Bildung wird oft unterschätzt. Handwerker leisten enorm viel, und das Handwerk bietet Stabilität. Das sieht man gerade jetzt, wo große Konzerne Stellen abbauen.
Rundblick: Stellt die Krise der Industrie eine Chance für das Handwerk dar?
Roeder: Große Konzerne wie VW oder Continental schaffen eine starke Corporate Identity, die für ihre Mitarbeitenden prägend ist. Wer in solchen Strukturen arbeitet, sieht einen Wechsel ins Handwerk oft nicht als Alternative, obwohl das Handwerk mit seiner Vielfalt und Stabilität in Krisenzeiten eine entscheidende Rolle spielt. Besonders diejenigen, die frisch in den Arbeitsmarkt einsteigen, erkennen zunehmend, dass selbst große Konzerne nicht vor Unsicherheiten geschützt sind. Für langjährige Mitarbeitende in Konzernen ist es allerdings oft schwer, sich beruflich neu zu orientieren und die Chancen im Handwerk zu erkennen.
Sander: Wenn bei einem großen Konzern wie VW Arbeitsplätze wegfallen, schlägt zudem die Politik sofort Alarm. Im Handwerk hingegen sterben Betriebe im Zweifel leise und langsam – da gibt es keine Unterstützung. Das ist eine Herausforderung für unsere Interessenvertretung. Unsere 85.000 Betriebe in Niedersachsen können wir nicht einfach abziehen, um Druck auszuüben. Wir müssen immer differenziert argumentieren, um etwas zu erreichen. Handwerk ist beispielsweise für die ländlichen Räume von entscheidender Bedeutung. Wenn der letzte Bäcker schließt oder der letzte Friseursalon verschwindet, stirbt der Ort.
Rundblick: Was kann man tun, damit Bäckereien oder Friseursalons nicht schließen müssen, wenn das Rentenalter erreicht ist, sondern ein Nachfolger bereitsteht?
„Wir brauchen mehr Mut zur Selbstständigkeit und weniger Angst vor Risiken.“

Roeder: Das Unternehmertum wird in Deutschland leider oft vernachlässigt. Wir brauchen mehr Mut zur Selbstständigkeit und weniger Angst vor Risiken. Die Meisterausbildung ist in diesem Kontext einzigartig: Sie verbindet unternehmerisches Verhandlungsgeschick mit handwerklichem Können. Dennoch entscheiden sich viele Absolventen eher für angestellte Leitungspositionen als für die Übernahme eines Betriebs. Laut Studien könnte in den nächsten Jahren ein Drittel der Handwerksbetriebe keine Nachfolge finden. Das wäre nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für die Gesellschaft ein großes Problem.
Sander: Warum wird das Unternehmertum nicht schon in der Schule gefördert? Stattdessen werden Kinder kaum an wirtschaftliche Zusammenhänge herangeführt. Finanzielle Bildung fehlt völlig. Das Schulsystem bereitet nicht darauf vor, den Wert von Arbeit oder Geld zu verstehen. Dabei könnte man genau hier ansetzen, um Unternehmertum und Risikobereitschaft zu fördern.
Rundblick: Wie könnte man das unternehmerische Denken junger Menschen gezielt fördern?
Roeder: Es ist wichtig, jungen Menschen die Angst vor Risiken zu nehmen. Unternehmertum bedeutet immer, einerseits Risiken einzugehen und andererseits aber auch wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Leider sind wir in Deutschland extrem bürokratisch – das hindert Innovationen und macht die Hürden höher. Viele Unternehmerinnen und Unternehmer sagen: „Ich will unternehmen, nicht verwalten.“ Doch sie verbringen zu viel ihrer knappen Zeit damit, administrativen Schaden zu begrenzen. Das schreckt potenzielle Nachfolgende ab. Schülerfirmen könnten einen Beitrag leisten, aber oft fehlt es ihnen an Praxisnähe.
Sander: Eltern haben oft große Sorgen, wenn es um die berufliche Zukunft ihrer Kinder geht. Uns geht es nicht darum, Ängste zu schüren oder falsche Erwartungen zu wecken. Wir fordern eine breite Berufsorientierung, die idealerweise schon in der Grundschule mit Vermittlung praktischer Grundfertigkeiten beginnt. Gerade Grundschüler brauchen Werkunterricht, der benotet wird und bei Lehrermangel nicht als Erstes gestrichen wird. Kinder, die Schwierigkeiten in Mathematik oder Deutsch haben, haben gegebenenfalls außergewöhnliche praktische Fähigkeiten, sei es im Handwerk, in der Hauswirtschaft oder im Gartenbau, die sie auch zeigen können sollten. Sie sollten stolz nach Hause gehen können und sagen: „In Werken hatte ich eine Zwei, da bin ich richtig gut.“ Solche Erfahrungen stärken ihr Selbstvertrauen und eröffnen Perspektiven. Wenn wir den jungen Menschen von Anfang an beibringen, dass handwerkliche Fähigkeiten genauso wertvoll sind wie akademisches Wissen, schaffen wir nicht nur neue Perspektiven, sondern sichern langfristig die Zukunft des Handwerks – nicht zuletzt im Sinne einer Gesellschaft, die das Handwerk vor Ort braucht.
Dieser Artikel erschien am 05.02.2025 in der Ausgabe #023.
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