Ein Rechtsstaat wie die Bundesrepublik zeichnet sich dadurch aus, dass alle Verfahren klar geregelt sind. Das gilt ebenso für Niedersachsen, die Landesregierung und den Landtag. Doch manchmal lässt sich Politik nicht in Gesetzestexte pressen. Manchmal sind die altbekannten Verfahren ungeeignet für die neue Herausforderung, die den Rahmen des üblichen Gesetzgebungs-, Beratungs- und Beteiligungsprozesses sprengen. In der nun bald zu Ende gehenden Legislaturperiode haben einige Minister ungewöhnliche Wege beschritten, um politische Vorhaben voranzubringen. Manche waren ausgesprochen erfolgreich. Andere wiederum blieben wenig mehr als Show und Stuhlkreis. Ein Überblick über Politikmodi jenseits des parlamentarischen Weges:

Die „Konzertierte Aktion Pflege Niedersachsen“:

Erinnert sich noch jemand an die niedersächsische Pflegekammer? Diese ist sicherlich als der größte Flop der aktuellen Landesregierung zu bewerten. Zu verantworten hatte diese noch die frühere Sozialministerin Carola Reimann (SPD), die inzwischen zurückgetreten ist und einen neuen Job in einer Krankenkasse gefunden hat. Geblieben ist aber ein Konstrukt, das den Kurznamen „Kapni“ trägt: Konzertierte Aktion Pflege Niedersachsen. Das Ziel der Kapni ist es, die Situation der Pflege nachhaltig zu verbessern. Dazu hat die Sozialministerin verschiedene Parteien mit an den Tisch geholt – denn an den Rahmenbedingungen kann sie selbst oder der Landtag wenig ändern. Beteiligt werden die niedersächsischen Wohlfahrtsverbände, Krankenkassen, Verbände der privaten Pflegeanbieter und Vertretungen der Pflegekräfte. Doch gerade die letztgenannte Gruppe hat ein Repräsentationsproblem. Wenn die Kapni etwas vorstellt, fühlen sich die Pflegekräfte häufig außen vor.

Der „niedersächsische Weg“ für mehr Artenschutz:

Klimawandel und Artensterben waren die globalen Themen, die Niedersachsens Politik bereits in der frühen Phase der Legislaturperiode beschäftigt haben. Doch bis Schwung in das Thema kam, vergingen Jahre. Aus Sicht der Umweltschutzverbände nahm die Politik das Problem des Arten- und Insektensterbens nicht ernst genug. Sie machten sich also auf den Weg, ein Volksbegehren zu initiieren. Selbst das wäre schon Politik jenseits des Parlaments, doch zumindest wäre dieser Weg verfassungsrechtlich geregelt. Was sich dann aber Umweltminister Olaf Lies (SPD) und Agrarministerin Barbara Otte-Kinast (CDU) als Reaktion überlegten, verließ den vorgesehenen Weg noch weiter.

Gemeinsam auf dem Niedersächsischen Weg: Barbara Otte-Kinast und Olaf Lies. | Foto: ML/Timo Jaworr

Gemeinsam mit den Umweltverbänden Nabu und BUND sowie den Agrarorganisationen Landvolk und Landwirtschaftskammer begründete man ein Dialog-Format, das den Namen „niedersächsischer Weg“ erhielt. Das Ziel war es, dem Volksbegehren den Wind aus den Segeln zu nehmen und deren Kernforderungen erstens schneller und zweitens nachhaltiger umzusetzen. Nachhaltiger deshalb, weil die Landwirte mit am Tisch sitzen sollten. Die Konfrontation wurde von der Straße an den Verhandlungstisch des Lenkungskreises und der Arbeitskreise verlagert. Das Ergebnis war ein großes Gesetzespaket, das vom Landtag einstimmig angenommen wurde – und ein Politik-Format, das andauert und noch weitere Probleme (etwa den Moorschutz) oder andere Partner (etwa den Lebensmitteleinzelhandel) mit einbinden soll. 

Der „Gesellschaftsvertrag“ für die Landwirtschaft:

Man kann nun darüber streiten, wer der große und wer der kleine Bruder ist. Agrarministerin Barbara Otte-Kinast sieht den „niedersächsischen Weg“ jedenfalls als Grundlage für das, was sie den „Gesellschaftsvertrag“ für die Zukunft der Landwirtschaft nennt. In einem bislang etwa zehnmonatigen offenen Dialogprozess haben Landwirte, Umweltschützer, Verbraucher, Einzelhandel, Verarbeiter, Wissenschaftler und viele mehr die Möglichkeit bekommen, an einer Art Leitbild und Handlungsrahmen für eine zukünftige Landwirtschaft mitzuwirken. Das Ergebnis wirkt noch recht wage, aber vielleicht muss das auch so sein. Denn Otte-Kinast will die Landwirtschaft wieder in die Mitte der Gesellschaft führen – und das ist womöglich ein immerwährender Prozess und kein Projekt mit klarem Zielpunkt. Greifbare Auswirkungen hat der Gesellschaftsvertrag dennoch schon. Im Haushalt sind knapp über 31 Millionen Euro für Maßnahmen bereitgestellt worden, die in den ersten Monaten des Verfahrens erarbeitet wurden. Aber brauchte es für dieses Maßnahmenpaket das vorherige Dialogformat?

Das Begleitforum zur Endlagersuche:

Das Land ist zwar nicht zuständig, aber hochgradig betroffen. Die Bundesrepublik sucht den besten Standort für ein Endlager für hochradioaktiven Atommüll. Laufzeit: ein paar Millionen Jahre. Das Verfahren ist komplex: Am Anfang stand eine weiße Karte, von der nun nach und nach Gebiete weggestrichen werden sollen. Es ist bloß recht wahrscheinlich, dass am Ende eine Menge Gebiete in Niedersachsen noch im Verfahren sein werden. Deshalb hat sich Niedersachsens Umweltminister Olaf Lies dazu entschieden, zusätzlich zum Endlagersuchprojekt auf Bundesebene noch ein niedersächsisches Begleitforum zu veranstalten. Anders als auf Bundesebene geht es hierbei nicht um Beteiligung im klassischen Sinne. Lies möchte bloß verhindern, dass die Niedersachsen das Thema vergessen. Und er möchte erreichen, dass sich zumindest ein paar Niedersachsen für das Thema interessieren und mitverfolgen, was die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) da so treibt. Doch es gibt auch Kritik an diesem Weg, denn schließlich hat man sich auf Bundesebene auf ein konkretes Verfahren für die Suche des geeigneten Endlagerstandortes geeinigt – es gebe also keinen Grund, dass Niedersachsen hier einen Sonderweg beschreitet, heißt es. Sind zu viele Gremien vielleicht auch geeignet, das Thema zu zerreden?

Der Energie-Krisengipfel:

So umfassend die Krise, so groß muss auch der Kreis der Eingeladenen sein. Als Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) und Wirtschaftsminister Bernd Althusmann (CDU) kürzlich zum Energie-Krisentreffen luden, versuchte man, alle Bereiche der Gesellschaft abzudecken:  Wohnungswirtschaft und Wohlfahrt, Landwirtschaft und Tafeln, Energieversorger und Unternehmerverbände, Gewerkschaften und Kirchen. Binnen kürzester Zeit sollen die Teilnehmer nun in fünf Arbeitsgruppen daran arbeiten, wie sich das Land auf den drohenden Gasmangel im Herbst und Winter einstellen soll. Wie federt das Land soziale Härten ab? Wie bringt man die Menschen zum Energiesparen? Wie erklärt man den Ernst der Lage? Wie sichert man die Lebensmittelversorgung? Wie schafft man Entlastung? Der große Teilnehmerkreis drückt die Dimension der Herausforderung aus. Er kann aber auch dazu beitragen, das Regierungshandeln in dieser Notsituation zu entpolitisieren. Denn schließlich haben dann alle daran mitgewirkt. Und dann sind da ja auch noch die Landtagswahlen im Herbst. Die Energiekrise taugt nicht zum Wahlkampfthema.

Gemeinsam durch die Energiekrise: Hubert Meyer (von links), Susanna Zapreva, Stephan Weil, Bernd Althusmann, Susanne Schmitt und Marco Brunotte. | Foto: Staatskanzlei

Dialog allein ändert aber noch keine Gesetze. Am Ende muss es eine Entscheidung geben, es braucht Verantwortliche, die Farbe bekennen. Der Ort für die Aushandlung und die Beschlussfassung ist in der repräsentativen Demokratie noch immer das Parlament. Die neuen Formate mögen das Regierungshandeln verbessern. Sie sollten aber nicht dazu führen, dass sich die Parlamentarier weiter entmachten lassen. Festzuhalten ist nämlich auch, dass es während der Corona-Pandemie nur ein Minimum an Beteiligung gab. Hier hat ein ganz kleiner Zirkel ganz allein weitreichende Entscheidungen getroffen und Verbände wie Parlament mussten darum kämpfen, einbezogen zu werden.

Auch die Dialogformate können ein Instrument sein, um am Parlament vorbei Mehrheiten zu erzeugen, an denen die Abgeordneten mit freiem Mandat dann kaum noch dran vorbeikönnen. Dann dürfen sie nur noch abnicken, was im vorgelagerten Forum bereits entschieden wurde. Um dies zu verhindern, sollte das Parlament selbst eine Öffnung zur Gesellschaft vornehmen. Dabei muss das Hohe Haus vielleicht eine ähnliche Flexibilität bei den Formaten an den Tag legen, wie es die Exekutive sich herausnimmt. Nicht jedes Thema kann und muss in einer langwierigen Enquetekommission behandelt werden.