Heute ist Jan, der Bäcker dran. „Berufe und Arbeitslosigkeit“ heißt das Kapitel, das die Mütter der Dritt- und Viertklässler gerade bearbeiten. Reihum lesen sie den Text vor, in dem Jan über seinen Alltag und seine beruflichen Ziele berichtet. Amela Vukljevics Blick bleibt bei einer Frau hängen. „Ich bin jetzt deine Tochter“, sagt sie. „Was würdest du fragen, um zu sehen, ob ich den Text verstanden habe?“ Hilfreich, erklärt sie, sind dafür alle Fragewörter, die mit dem Buchstaben W beginnen: Wann? Was? Warum?

Für keine der Teilnehmerinnen ist Deutsch ihre Muttersprache. Manche formulieren die W-Fragen mühelos, mit leichtem Akzent. Andere müssen nach Worten suchen. „Im ganzen Satz!“, erinnert die Elternbegleiterin sie und klingt für einen Moment strenger, als sie ist. Sie erklärt, warum das Thema wichtig ist: „Bei den Hausaufgaben geht es nicht nur ums Durchlesen. Die Lehrer achten auch darauf, dass die Kinder den Inhalt verstehen. Mit solchen Fragen habt ihr gleich gecheckt: Haben sie die Hausaufgaben verstanden? Haben sie sie überhaupt gemacht?“

Die Mütter der Erst- und Zweitklässler haben eine Menge Spaß zusammen. | Foto: Beelte-Altwig

Von knapp 300 Schülern an der Grundschule Stammestraße in Hannover haben 220 einen internationalen Hintergrund. „Immer wieder kommen im laufenden Schuljahr Familien ohne Deutschkenntnisse dazu“, sagt Lehrerin Melina Kurt. Schulleiterin Stephanie Schluck ergänzt: „Es gibt auch Eltern, die hier aufgewachsen sind und die trotzdem nur rudimentär Deutsch können.“ Für diese und alle interessierten Eltern gibt es seit fünfzehn Jahren das „Rucksack-Projekt“: Parallel zu den Kindern lernen an drei Vormittagen in der Woche auch die Eltern – in der Regel sind es die Mütter -, wie sie ihre Kinder in der Schule unterstützen können. „Am Anfang haben wir zusammen gesungen, getanzt und gebastelt. Dann sind wir gar nicht mehr dazu gekommen, weil wir so viel über Politik geredet haben“, erinnerte sich Evgenia Schmidt bei der Jubiläumsfeier. Die Sachgebietsleiterin bei der Landeshauptstadt Hannover arbeitet seit 2013 für das Projekt. Inzwischen wurde das Programm aktualisiert: Gesprochen wird über Demokratie, Geschlechterdiversität oder den Nahostkonflikt – für viele Teilnehmer ein persönliches und schmerzliches Thema.

„Die Rucksack-Schule ist so ein erfolgreiches Projekt“, lobte Jugenddezernentin Eva Bender bei der Jubiläumsfeier: „Niemand würde auf die Idee kommen, hier zu kürzen.“ Die Idee entstand in den 1990er Jahren in den Niederlanden. Ein Unternehmen aus Nordrhein-Westfalen hat sie auf den deutschen Bildungsmarkt übertragen. Doch die Bildungspolitik in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen hat sich seitdem auseinanderentwickelt, sodass die Lerninhalte nicht mehr zu den Anforderungen in Hannover passten. Deswegen hat die Landeshauptstadt eigene Materialien erstellen lassen. „Andere Kommunen hatten auch Interesse an dem Programm“, berichtet Evgenia Schmidt im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick. Doch die Lizenz liege weiterhin in NRW, deswegen könne das Material aus Hannover nicht weiterverbreitet werden. In Braunschweig zum Beispiel läuft das Schwesterprogramm „Rucksack-Kita“. „Anders als bei ,Rucksack-Kita‘ gibt es bei ,Rucksack-Schule‘ keinen fachlich begleiteten Transfer nach Niedersachsen und auch keine koordinierende Stelle des Landes“, sagt Rainer Keunecke, Sprecher der Stadt Braunschweig. „Das Programm selbst anzupassen, würde einen zu hohen organisatorischen und zeitlichen Aufwand bedeuten.“

Während die Mütter der Dritt- und Viertklässler über Fragewörter sprechen, befassen sich die Mütter der Erst- und Zweitklässler mit den Festen der verschiedenen Religionen. Dann gibt es noch ein kleines Gedicht über den Winter. Die Frauen deklamieren mit großem Pathos, sie rappen. Es ist zum Schreien komisch. Dazwischen wuseln die Kinder herum, die für Schule und Kindergarten noch zu klein sind. Bei den Treffen ist immer eine Kinderbetreuung dabei. Die Betreuungskraft sitzt gerade auch bei den Frauen, schaukelt einen Kinderwagen und lacht mit. Für viele Beteiligte an diesem Programm ist dieser Job der Start ins Arbeitsleben in Deutschland. Wer sich noch mehr zutraut, kann als Elternbegleiterin die Leitung einer Gruppe übernehmen. In einer Auswertung haben neunzig Prozent der Teilnehmerinnen gesagt, dass die Rucksack-Schule ihnen neue Wege in ihrer eigenen Biografie eröffnet hat.

Zahide Elaltunkara hat mit „Rucksack-Schule“ den Schritt ins Arbeitsleben geschafft: Sie ist pädagogische Mitarbeiterin an der Grundschule Stammestraße. | Foto: Beelte-Altwig

Eine von ihnen ist Zahide Elaltunkara. Sie ist heute später dazugekommen, hat ihren Arbeitstag schon hinter sich. Als pädagogische Mitarbeiterin der Grundschule Stammestraße betreut sie die Kinder, die vor Unterrichtsbeginn in die Schule kommen. Als sie anfing, bei der Rucksack-Schule teilzunehmen, war sie Hausfrau. Mittlerweile hat sie einen deutschen Schulabschluss und ein eigenes Einkommen. Sabrine Mtir ist die Einzige, die sich in der Vorstellungsrunde mit ihrem Beruf vorgestellt hat. Sie ist Biologin, hat es geliebt, im Labor zu arbeiten, erzählt sie. Eigentlich wollte sie längst auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß gefasst haben, doch dann wurde sie überraschend noch einmal Mutter. Sie hat sich schon zu ihren Aussichten erkundigt: Die Berufsberatung hat ihr lediglich Hoffnung auf einen Einstieg als Laborantin gemacht.

2009 ist das Rucksack-Projekt mit vier Schulen gestartet, die Grundschule Stammestraße war eine davon. Mittlerweile ist es an der Hälfte von Hannovers Grundschulen etabliert, seit 2016 auch in Flüchtlingsunterkünften. Es hatte sich gezeigt, dass sich geflüchtete Eltern besser dort erreichen lassen als in der Schule. 17 Rucksack-Gruppen treffen sich in Obdachlosenunterkünften, in denen Roma leben. Zunächst, berichtete Evgenia Schmidt, war es schwierig, Interesse bei den Eltern unter ihnen zu wecken. Deswegen hat das Team angefangen, mit den Kindern zu arbeiten. Das hat bei den Eltern das Eis gebrochen. Mittlerweile gibt es Elterncafés sowie Mädchen- und Jungenprojekte in den Unterkünften.

Mehr als 200 Elternbegleiterinnen sind oder waren in Hannover aktiv. | Foto: Beelte-Altwig

Melina Kurt ist unter den Lehrkräften an der Grundschule Stammestraße die Ansprechpartnerin für das Rucksack-Projekt. Sie erlebt immer wieder, wie die Teilnehmerinnen selbstbewusster werden und beginnen, sich in der Schule zu engagieren. Für die Gruppen organisiert sie Hospitationen im Unterricht. So können die Mütter einmal ihr Kind in einer anderen Rolle erleben und besser verstehen, was die Erwartungen der Lehrkräfte sind. „Sie sehen, dass Lehrer keine Unmenschen sind und dass sie keine Angst vor uns haben müssen“, beschreibt Melina Kurt. Die Rucksack-Beteiligten gestalten jedes Schulfest mit und wirken in den Stadtteil hinein. Allerdings, schränkt Schulleiterin Stephanie Schluck ein, erreicht das Projekt nicht alle Familien: „Die Eltern, mit denen wir Kontaktschwierigkeiten haben, sind nicht dabei.“

Nach ihren Tricks gefragt, wie sie Mütter für die Gruppe gewinnen, sagen die Elternbegleiterinnen Amela Vukljevic und Rima Khalife lachend: „Wir haben Kaffee und Essen.“ An diesem Vormittag stehen deutsche Butterplätzchen, die die Frauen gemeinsam gebacken haben, ein Kuchen nach tunesischem Rezept, der mit seinem Orangenduft eine Ahnung von Sommer in die Schulmensa bringt, und noch viel mehr auf dem Tisch. Wenn Mütter zum Bäcker gehen, während sie auf ihr Kind warten, sprechen die Elternbegleiterinnen sie an und sagen: „Du kannst doch auch zu uns kommen.“ Rima Khalife kommt aus dem Libanon, Amela Vukljevic hat serbische Wurzeln und ist in Deutschland aufgewachsen. Dass sie mit den Frauen manchmal keine gemeinsame Sprache haben, ist kein Problem, meint Khalife. „Wir Ausländer können das“, sagt sie lachend. „Wir können uns untereinander mit Händen und Füßen verständigen.“ Einen Wunsch hat das Team von Rucksack-Schule noch: Seit der einzige männliche Elternbegleiter ausgestiegen ist, wird ein neuer Kollege gesucht. Wieder eine Vätergruppe zu haben wäre gut.