Wann ist der richtige Zeitpunkt gekommen, ein unsicheres Vorhaben zu stoppen, wenn man merkt, dass es nicht so läuft, wie man sich das vorgestellt hat? In der Frühjahrstagung der Synode der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers war das die große Frage. Von „beenden“ wollte man dabei eigentlich nicht reden, sondern lieber von „umsteuern“. Aber dann fiel eben doch jener Satz im Bericht von Christine Rinne und Friedrich Selter aus dem „Koordinierungsrat“ des landeskirchlichen Zukunftsprozesses: „Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, den Prozess in seiner jetzigen Struktur zu beenden.“

Christine Rinne und Friedrich Selter aus dem Koordinierungsrat des landeskirchlichen Zukunftsprozesses wollen die Reißleine ziehen. | Foto: Jens Schulze

Dabei hat doch ebenjener Zukunftsprozess, das ganz große Vorhaben dieser Synode, erst vor einem halben Jahr so richtig begonnen. Entsprechend überrascht waren die Kirchenparlamentarier über den Antrag, der ihnen da vorgelegt wurde. Erwartet hatten sie schließlich einen Zwischenbericht und keine Fehlermeldung. Immerhin zwei mögliche Wege bot man den Synodalen an, aus denen sie dann einen wählen sollten. Doch beide Alternativen klangen dann doch ganz ähnlich: Entweder wird der Zukunftsprozess fortgesetzt, aber ganz anders. Oder er wird in dieser Form beendet, aber geht dann an anderer Stelle irgendwie weiter, nur wie genau, das weiß man noch nicht. Klar scheint nur: So geht es nicht mehr, die Kirche ist auf dem Holzweg. Was ist da schiefgelaufen?


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Rückblende: Im Herbst 2020 hat die Synode der mitgliederstärksten evangelischen Landeskirche in Deutschland den Beschluss gefasst, in einen ungewöhnlichen, offenen Prozess über ihre Zukunft eintreten zu wollen. Mitgliederschwund und perspektivisch knapper werdende Finanzmittel zwingen die Kirchen zum Umdenken, zum Sparen. Was die Landeskirche Hannovers aber wagen wollte, war etwas anderes. Man wollte nicht vom Defizit her denken, auch nicht ausschließlich vom Bewahren her, sondern den Blick auf das Neue richten. In mehreren Schritten wurde dann das Design entwickelt, in dem man diesen Prozess gestalten wollte, und es wurde Personal eingestellt.

Im Herbst 2022 wurde das sogenannte „Zukunftsprozessteam“ vorgestellt und dann kam der Startschuss. Mit einer live übertragenen Auftaktveranstaltung wollte man deutlich machen: Wir machen jetzt alles anders. Modern wirkte das Ambiente und auch die Musik. Mitarbeiter des Zukunftsprozessteams erklärten die neue Website, auf der Ideen gesammelt, Projekte vernetzt und Erneuerungsprozesse angestoßen werden sollten. Startup-Kultur lag in der Luft.

„Die Resonanz blieb verhalten“

Und dann? „Die Resonanz blieb verhalten“, erklärte Selter am vergangenen Freitag selbstkritisch vor der Synode. „Die Beteiligung bleibt hinter unseren Erwartungen weit zurück.“ Bis Februar wurde die Aufzeichnung der Auftaktveranstaltung bei Youtube nur rund 1400-mal angeklickt. 58 Inspirationen wurden eingestellt, darunter 25 Ideen und 33 Praxisbeispiele, bei denen es offenbar eher darum ging, dass jene, die gute Arbeit leisten, wahrgenommen werden wollen. Ein Schaufenster für Eitelkeiten? Nur neun sogenannte „Werkräume“, in denen dann an guten Ideen konkret weitergearbeitet werden sollte, wurden eingerichtet. 314 Personen haben den Newsletter abonniert, davon sind den Adressen nach zu urteilen zwei Drittel Hauptamtliche der Kirche; ähnlich sieht es bei den Anmeldungen für die Plattform aus.

Mitglieder des Zukunftsprozess-Teams verfolgen die Debatte mit besorgten Gesichtern. | Foto: Jens Schulze

Insgesamt bewertet das Team diese Zahlen sehr kritisch, wendete man sich doch an mindestens zwei Millionen Mitglieder – und wollte sogar noch ganz andere Gruppen ansprechen. „Wir haben uns getäuscht, als wir dachten, dass auch Menschen, die die Kirche aus der Distanz kritisch begleiten, erreicht werden können“, räumte Selter ein. Der Mehrwert sei nicht erkennbar, analysiert er. In der Zwischenzeit hat man reagiert und in einem kleinen Relaunch eine neue Rubrik auf der Website ergänzt. Jetzt kann man auf der Plattform auch die anderen Erneuerungsprozesse, die in der Kirche derzeit laufen, einsehen – etwa jenen zur Erneuerung der Verwaltungsstruktur, bei dem das Kirchenamt deutlich konkreter an einer Modernisierung ihrer Abläufe arbeitet. Aber hilft so ein Nachsteuern noch, wenn das Vorhaben die Menschen nicht erreicht? Die Kirchenleitung möchte die Reißleine ziehen.

Ist die Zukunft der Kirche damit gescheitert?

War es das jetzt? Ist die Zukunft der Kirche damit gescheitert? Dass dieses Signal von der Synode ausgehen könnte, möchten alle vermeiden. Doch wie dieser Eindruck vermieden werden kann, dazu gibt es zwei unterschiedliche Wege, die diskutiert werden. Das eine Lager will unbedingt am Zukunftsprozess, wie er ursprünglich beschlossen wurde, festhalten. Ein halbes Jahr sei zu wenig Zeit, um schon ein Urteil zu fällen, sagen Anhänger jener Position. Sie verweisen auf den ursprünglichen Zeitplan, der eine Auswertung erst in einem Jahr vorsieht, und erklären, dass in den Gemeinden so viel auf der Tagesordnung stehe, dass manche ihre Beteiligung am Zukunftsprozess einfach noch auf einen späteren Zeitpunkt im Jahr verschoben hätten.



Eine Synodale nannte den aktuellen Zustand des Zukunftsprozess eine „Ist-Beschreibung unserer Kirche“: Man wolle die Zukunft gestalten, ergebnisoffen vorgehen, lasse sich für diese gewagte Idee feiern – aber gerate in Panik, wenn nach einem halben Jahr noch keine greifbaren Ergebnisse vorliegen. „Wir denken so sehr in Zeitplänen, dass wir es nicht schaffen, den Prozess einmal fließen zu lassen“, beklagte sie und plädierte für eine Fortsetzung des eingeschlagenen Weges. Ums Image machte man sich dabei auch berechtigte Gedanken. „Scheitern ist doch wohl keine Option!“, meinte Ulf Thiele, CDU-Politiker und Synodaler aus dem Sprengel Ostfriesland kämpferisch. „Was ist denn das für ein Signal an die Landeskirche?“

Ulf Thiele sorgt sich um das Signal, das von einem Abbruch des Zukunftsprozesses ausgehen könnte. | Foto: Jens Schulze

Es ist auch ein Signal der Zerrüttung, das sich da abzeichnete in dieser ungewöhnlichen Debatte im Kirchenparlament. Von Vertrauen, das zwischen Zukunftsprozessteam und Koordinierungsrat „irreparabel zerstört“ sei, wird von einem Synodalen gesprochen. Besonders gut kam das nicht an, aber es drängt sich der Eindruck auf, dass da einiges im Argen liegen könnte. Mit dem Benennen der konkreten Fehler tut man sich allerdings schwer in dieser so auf Harmonie ausgerichteten Institution der Geschwisterlichkeit. Denkt man allerdings an das Bild der Startup-Kultur zurück, mit dem die Kirche in diesen Prozess gestartet ist, gehört eigentlich auch der souveräne Umgang mit dem Scheitern mit dazu. Das Wesen der Startup-Szene ist es schließlich, etwas Gewagtes auszuprobieren, es aber genauso zu verwerfen, wenn es nicht ankommt, und dann neu zu starten.

Jörn Surborg fordert den Neustart des Zukunftsprozesses. | Foto: Jens Schulze

Den Weg des Neustarts verfolgt nun das zweite Lager, dem eindeutig die Kirchenleitung und auch der langjährige Vorsitzende des Landessynodalausschusses, Jörn Surborg, angehört. „In dieser von uns beschlossenen Form entfaltet der Prozess wenig Resonanz und keine Wirksamkeit“, schlussfolgerte er. Das Vorhaben sei zu „wabernd“ gewesen, niemand habe verstanden, was die als „Werkräume“ und die „Konkretionen“ auf der Online-Plattform titulierten Rubriken eigentlich sein sollten. Überhaupt gingen die hauptsächlich digitalen Angebote des Zukunftsprozesses an zu vielen Menschen vorbei, sind viele der Synodalen überzeugt. Das Prozessteam habe in die Fläche der Landeskirche gehen sollen, das sei aber nicht oder zu wenig passiert, heißt es immer wieder.

Ein Neustart des Zukunftsprozesses könnte nun also wie folgt aussehen: Die Landeskirche verabschiedet sich von dem ganz offenen Ansatz, der keinerlei Vorgaben macht, über welche Themenfelder sich die Interessierten austauschen sollen. Das war ein Ansatz, für den die Kirche Hannovers aus anderen Landeskirchen gelobt, aber durchaus auch kritisch beäugt worden war. Stattdessen müsse eine klare Erwartungshaltung formuliert werden, heißt es wiederholt – denn Erwartungen gebe es offensichtlich eh, schließlich werde ja auch davon gesprochen, dass die Erwartungen nicht erfüllt wurden. Das Verfahren braucht nun also eine Richtung und einen klareren Rahmen. „Niemand beteiligt sich, wenn nicht klar ist, woran man sich eigentlich beteiligen soll“, sagte Surborg.

Mit knapper Mehrheit entschied die Synode am Freitagnachmittag, diesen Neustart zu wagen. Der Koordinierungsrat soll nun ein neues Design für die Arbeit an der Zukunft der Kirche entwickeln, dabei sollen die bereits laufenden Reformprozesse der Kirche besser miteinander verzahnt sowie die guten Ideen von der Beteiligungsplattform weiterverfolgt werden, heißt es.

Bischof Meister bleibt gelassen

Mit deutlich mehr Gelassenheit blickt derweil Landesbischof Ralf Meister auf die Unruhen rund um den Zukunftsprozess. „Es braucht nicht diesen einen Impuls“, sagte er im Pressegespräch. „Es wäre sogar falsch zu glauben, dass der Zukunftsprozess diesen einen Impuls geben muss.“ Ohnehin sei es auch theologisch falsch, zu glauben, der Mensch gäbe den entsprechenden Impuls zur Erneuerung der Kirche. Wer genau hinschaue, könne bereits jetzt darüber staunen, was ohnehin schon in den Gemeinden und Kirchenkreisen Gutes passiere.

Landesbischof Ralf Meister sorgt sich nicht um eine gute Zukunft seiner Kirche. Er vertraut. | Foto: Jens Schulze

Mit deutlich mehr Gelassenheit blickt derweil Landesbischof Ralf Meister auf die Unruhen rund um den Zukunftsprozess. „Es braucht nicht diesen einen Impuls“, sagte er im Pressegespräch. „Es wäre sogar falsch zu glauben, dass der Zukunftsprozess diesen einen Impuls geben muss.“ Ohnehin sei es auch theologisch falsch, zu glauben, der Mensch gäbe den entsprechenden Impuls zur Erneuerung der Kirche. Wer genau hinschaue, könne bereits jetzt darüber staunen, was ohnehin schon in den Gemeinden und Kirchenkreisen Gutes passiere.