Drei Zahlen genügen Laura Pooth, der Landesvorsitzenden der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), um die gesamte Misere des in dieser Woche in Niedersachsen beginnenden Schuljahres zu verdeutlichen: Rund 1900 Lehrkräfte seien zum August in den Ruhestand gegangen, aber nur knapp 1800 neue Lehrerstellen wurden vom Land ausgeschrieben, führte sie gestern in Hannover vor Journalisten aus. „Das ist neu, dass die Neueinstellungen niedriger sind als die Zahl derjenigen, die in Rente oder Pension gehen“, sagte Pooth.

Hinzu komme, dass zum 30. August nur etwas mehr als 1400 Absolventen die niedersächsischen Studienseminare verlassen haben. Weil die Bezahlung in den umliegenden Bundesländern häufig aber viel besser sei als in Niedersachsen, konnten von den ausgeschriebenen Stellen bislang nur knapp 80 Prozent besetzt werden. Die GEW merkt aber an, dass sich diese Zahlen nun in den kommenden Tagen lokal noch ändern könnten.

„Eine Schule mit 80 Prozent Unterrichtsversorgung hat nichts davon, wenn eine andere dafür über 100 Prozent hat.“

Folgt man diesem einfachen Rechenexempel der Bildungsgewerkschaft, wird Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) am Mittwoch kaum ein positives Bild der Unterrichtsversorgung in Niedersachsen zeichnen können. Die Erfahrung lehrt jedoch: Vermutlich wird er genau das aber doch tun, wenn er am Vortag des ersten Schultags die neue Statistik vorlegt. Gewerkschaftschefin Pooth warnt jedoch davor, sich von einer rechnerischen Unterrichtsversorgung auf dem Papier blenden zu lassen. „Eine Schule mit 80 Prozent Unterrichtsversorgung hat nichts davon, wenn eine andere dafür über 100 Prozent hat“, erläuterte Pooth die statistische Täuschung.

Die GEW wartet noch immer darauf, dass das Kultusministerium eine andere Darstellung der Versorgungslage wählt. Angesichts der Ausreißer in einigen Schulbezirken spricht Pooth von einer „Unwucht ohne Ende“. So seien beispielsweise im Schulbezirk Braunschweig nach aktuellem Stand in Salzgitter 60 Prozent der ausgeschriebenen Stellen unbesetzt, in Helmstedt 43 Prozent, in Wolfsburg 38 und in Gifhorn 36 Prozent der Stellen. Im Schulbezirk Hannover liege die Unterrichtsversorgung in Holzminden, Hameln und Nienburg mit weniger als 70 Prozent besonders niedrig.

Foto: nkw

Der Fachkräftemangel an Niedersachsens Schulen gehe allerdings noch viel weiter, meint die GEW-Landesvorsitzende Pooth. Unter Berufung auf die Ergebnisse einer Arbeitszeitkommission des Kultusministeriums, die einen Personalmangel von 3500 Stellen für Grundschulen, Gymnasien und Gesamtschulen ermittelt hat, fordert die Gewerkschaft die Einrichtung von insgesamt 7000 neuen Stellen. Auf diese Summe kommt die GEW, weil sie die Fehlstellen auf alle Schulformen überträgt. Die Belastung der Lehrkräfte sei sehr hoch, führte Pooth aus. Das habe sich durch die Corona-Pandemie noch einmal verstärkt.

Eine Befragung, die die GEW unter ihren Mitgliedern im August durchgeführt hat und an der sich mehr als 2000 Mitglieder beteiligt haben, zeigt auf, dass 77 Prozent der Befragten der Aussage zustimmen, sich durch Corona im Beruf gestresster zu fühlen als vor der Pandemie. Ein anderes Indiz für die steigende Belastung der Lehrerschaft meint die GEW in der wachsenden Zahl von Überlastungsanzeigen sowie Anträgen auf Entpflichtung von Schulleitungen zu erkennen. Wie Pooth gestern ausführte, wachse die Zahl derjenigen Rektoren vor allem an Grundschulen, die darum bitten, von dieser Aufgabe wieder entbunden zu werden, da sie ihren Pflichten nicht angemessen nachkommen könnten. Die GEW-Chefin fordert das Kultusministerium daher auf, diesem neuen Phänomen nachzugehen und zu ermitteln, wie den betroffenen Schulleitungen geholfen werden kann.

„Die Schulen benötigen jede Stelle auf Dauer, um die Belastung spürbar zu senken. Gesundheitsschutz geht weit über Hygienemaßnahmen hinaus.“

Zur weiteren Entlastung der Schulen forderte Pooth gestern außerdem noch, die aus Corona-Fördertöpfen finanzierten Stellen zu entfristen. „Die Schulen benötigen jede Stelle auf Dauer, um die Belastung spürbar zu senken. Gesundheitsschutz geht weit über Hygienemaßnahmen hinaus“, sagte Pooth. Neben den personellen Engpässen sorgt aber auch die materielle Ausstattung für Unzufriedenheit. Immerhin 27 Prozent der befragten GEW-Mitglieder gaben an, dass es in ihrer Schule nicht ausreichend Waschbecken, Seife und Einmal-Handtücher gebe.

Pooth bezeichnete dies als „besonders erschreckend“ und „wirklich skandalös“ – zumal die Zahl im Vergleich zum Vorjahr nur gering zurückgegangen ist. 2020 hatten 29 Prozent der Befragten so geantwortet. Insgesamt 77 Prozent der Befragten stimmten zudem der Aussage zu, ihre Schule brauche Investitionen, um den Gesundheitsschutz zu verbessern, etwa durch den Einbau von Luftfilteranlagen. Hier wirft die GEW der Landespolitik vor, ein Jahr Vorbereitungszeit verschlafen zu haben.

Zufrieden zeigte sich die Gewerkschaft allerdings angesichts der neuen Rahmen-Dienstvereinbarung, die nach einem Jahr agieren im rechtsfreien Raum endlich Rechtssicherheit in Bezug auf den Einsatz digitaler Anwendungen beim Distanzlernen geben soll. Dass diese Vereinbarung noch einmal zum Einsatz kommen wird, davon ist Pooths Stellvertreter Holger Westphal überzeugt: „Wir gehen alle davon aus, dass es im Zusammenhang mit der Pandemie im Herbst und Winter noch einmal Zeiten des Distanzlernens geben wird.“