Erst wenige Tage ist es her, da wäre fast eine Frau zur neuen Bundesvorsitzenden der AfD gewählt worden, die über die Bundesrepublik offen sagte: „Das ist nicht unsere Gesellschaft, da gehören wir nicht dazu.“ Nur eine einzige Stimme verhinderte ihren Sieg auf dem Parteitag. Viele Beobachter sind gegenwärtig erschrocken, wie vehement Politiker am rechten Rand das parlamentarische System ablehnen. Vor mehr als 40 Jahren hat es ähnliche Erscheinungen auch am linken Rand gegeben – es gab eine heute immer noch existente Partei, die DKP, die in ihrem Programm den „revolutionären Bruch mit den kapitalistischen Macht- und Eigentumsverhältnissen“ predigt. Damals gab es eine Sperre, die Mitgliedern der DKP wie der rechtsextremen NPD und anderer extremistischer Gruppen den Zugang zum Staatsdienst verwehrte – den „Radikalenerlass“.

 

Blick von der Pressetribüne auf die Veranstaltung: Foto: KW

Im niedersächsischen Landtag gibt es jetzt, fast 30 Jahre nach dem Ende dieses „Radikalenerlasses“, eine historische Aufarbeitung der Ereignisse von damals. Dabei geht es allerdings nicht, wie man wegen der aktuellen Debatten um die AfD vermuten könnte, um die richtigen Strategien im Umgang mit politischen Kräften, die womöglich den Staat unterwandern oder antidemokratisches Gedankengut in die Schulen tragen wollen. Es geht vielmehr einzig allein um die Frage, ob mit den Betroffenen damals gerecht umgangen wurde – oder ob die Landesbehörden vielmehr falsche Behauptungen als Grundlage dafür nahmen, ihnen die Arbeit in staatlichen Stellen zu verbieten. Dazu sind im alten Plenarsaal des Landtags, wo bis vor wenigen Monaten regelmäßig die Abgeordneten tagten, etwa 100 Interessierte zusammengekommen. Die vor einem Jahr berufene Landesbeauftragte für dieses Thema, die frühere SPD-Politikerin Jutta Rübke, hatte zur Veranstaltung eingeladen. Ihr Mitarbeiter Wilfried Knauer, ehemaliger Leiter der Gedenkstätte in Wolfenbüttel, hat die Akten von damals durchgesehen – und nach eigener Auskunft ein recht geschlossenes Bild davon übermittelt bekommen, was zwischen Start der Überprüfungen 1972 und ihrem Ende 1990 in den niedersächsischen Behörden gelaufen ist.

Knauer stieß nach eigenen Worten auf jede Menge Merkwürdigkeiten: 172.000 Anfragen zu Bewerbern für den öffentlichen Dienst und zu bereits Beschäftigten wurden bearbeitet, in den ersten Jahren war für die Klärung allein der Verfassungsschutz zuständig, der mit den Staatsschutz-Dienststellen der Polizei kooperierte. 217 Beschäftigte, die schon im öffentlichen Dienst waren, wurden überprüft, 62 von ihnen mussten nach Disziplinarverfahren gehen. 141 Bewerber, die in einer Behörde tätig werden wollten, wurden nach der Anhörung abgelehnt. In den ersten Jahren wurden noch wenige „Verdächtige“ identifiziert, später wurden es mehr – 1972 war es einer bei 5000 Anfragen, 1975 hatte man 12.000 Anfragen und 194 auffällige Personen. Insgesamt etwa 1000 Personen mussten vor Anhör-Kommissionen, und Knauer hat herausgearbeitet, dass es dort mitnichten nur um Fakten ging, also Mitgliedschaften in der DKP oder K-Gruppen, DKP-nahe Aktivitäten oder Reden auf Kundgebungen. Tatsächlich seien Halbinformationen interpretiert, zugespitzt und verdreht worden, sodass von den Betroffenen ein falsches Bild gezeichnet und in die Akten verewigt wurde. „Behauptungen wurden oft als Tatsachen bezeichnet“, wiederholt auch mit der Folge, dass die abgelehnten Bewerber für den Staatsdienst auch woanders später beruflich nicht mehr Fuß fassen konnten. Da die Vorwürfe gerichtsverwertbar sein mussten, habe man vor allem auf Funktionen und konkrete Aktivitäten abgestellt.

Warum geschah das alles? Der Politologe Michael Vester sieht eine „Gegenreformbewegung“, die mit der sozialliberalen Ära auf Bundesebene Ende der sechziger Jahren eingesetzt habe. Den Initiatoren sei es darum gegangen, den Sieg der Studentenbewegung mit ihrem „Marsch durch die Institutionen“ (Rudi Dutschke) aufzuhalten – in den Hochschulen und im öffentlichen Dienst. Kurz vor der Verständigung auf den „Radikalenerlass“ Anfang 1972 sei in Hannover der Hochschullehrer Peter Brückner verdächtigt worden, der gesuchten Ulrike Meinhof geholfen zu haben. Die SPD habe vermeiden wollen, für die von rechten Kreisen behauptete „Unterwanderung der Hochschulen“ in Mithaftung genommen zu werden – und habe unter Willy Brandts Kanzlerschaft den „Radikalenerlass“ mitgetragen. Auch Joist Grolle erinnert sich, der seit 1970 im Landtag saß und zwischen 1974 und 1976 der erste niedersächsische Wissenschaftsminister war. Grolle war gegen die Ausgrenzung von Kommunisten aus dem Staatsdienst („Wer das System in Frage stellt, greift es nicht an – das System hält das aus“), musste dann aber als Minister die von seinem Ministerpräsidenten Alfred Kubel mitgetragene Linie umsetzen. Im Kabinett habe Kultusminister Peter von Oertzen (SPD) versucht, in der Praxis Milde walten zu lassen, nach dessen Kabinettsverzicht 1974 aber wurde eine „zentrale Anhörkommission“ berufen, in der das nachsichtige Kultusministerium ausgegrenzt und der Kurs verschärft worden sei. Grolle wurde in jenem Jahr Wissenschaftsminister, und er erinnert sich an zwei heikle Fälle: Innenminister Röttger Groß (FDP) habe gewollt, dass man die Arbeit des Politologen Wolf-Dieter Narr näher beleuchtet, der in Niedersachsen Professor werden wollte, aber auffällig offen linke Positionen vertreten hatte. Mit acht zu einer Stimme sei Grolle im Kabinett, als er Narr verteidigte, unterlegen – er konnte somit nicht berufen werden. Außerdem, sagt Grolle, habe er das hannoversche Theater des DKP-nahen Kabarettisten Dietrich Kittner fördern wollen, doch der Regierungspräsident habe sich damals geweigert, einen Zuschuss weiterzuleiten. Mit viel Überzeugungsarbeit sei es dann doch gelungen.

Was folgt nun aus all dem, was damals passiert ist? Die Landesbeauftragte Jutta Rübke will für einen „Härtefallfonds“ werben, der besonders stark Betroffene, die unter den Entwicklungen bis heute leiden, helfen soll. In einem „Internetportal“ soll die Entwicklung des „Radikalenerlasses“ und der etwa 1000 Menschen, die damals überprüft und vor Kommissionen geladen wurden, festgehalten werden. Dafür, sagt Rübke, soll die Landeszentrale für politische Bildung arbeiten – und diese benötige Geld für diesen Zweck.

Aber was ist mit der Grundsatzdebatte, die mit diesen Ereignissen von damals zwangsläufig entsteht? Wie soll der Staat mit Systemgegnern umgehen, die für ihn – etwa als Lehrer – arbeiten wollen? Braucht man etwa eine objektivere und gerechtere Überprüfung von Lehrern, die im Verdacht stehen, völkische Positionen zu vertreten? Antworten darauf bleiben Rübke und ihre Mitstreiter schuldig. (kw)