Ein prägender Moment der deutschen Politikgeschichte: Rainer Barzel nähert sich der Regierungsbank von Willy Brandt nach dem misslungenen Misstrauensvotum. | Foto: J. H. Darchinger/Friedrich Ebert Stiftung

Das Datum dieser Bundestagswahl ist am Wochenende ein halbes Jahrhundert her – und sie bleibt all denen, die das damals schon miterlebt haben, wohl ewig in Erinnerung. Viele der älteren heute aktiven Politiker sind damals für die Politik begeistert oder elektrisiert worden. Das gilt beispielsweise auch für Stephan Weil. Aus Kreisen der SPD heißt es immer wieder, es sei dieser „Brandt-Effekt“ gewesen, sie sprechen von der „Willy-Wahl“. Kanzler Willy Brandt (SPD), der mit seiner SPD/FDP-Koalition seinerzeit die neue Ostpolitik in Gang brachte und Verträge mit den Machthabern in Moskau und Warschau schloss, betrieb das gegen teilweise erbitterten Widerstand aus der CDU/CSU. Damals lag der Zweite Weltkrieg gerade mal 30 Jahre zurück, in der Bundesrepublik lebten viele Vertriebene aus den Ostgebieten, die Brandts Annäherung an die kommunistischen Machthaber als „Verrat“ ansahen.

Der Wahlsieg von Brandt wird als deutliches Zeichen der Sympathie für die Aussöhnung der Völker, für eine Öffnung gegenüber dem Osten gedeutet. Das ist sicher zutreffend. Aber umgekehrt gab es auch in der CDU und der CSU damals viele Menschen, die über den Wahlkampf 1972 zur Politik gekommen sind – nicht unbedingt wegen der Ostpolitik, sondern teilweise auch, weil sie innenpolitische Ansätze in der Ära Brandt als besorgniserregend wahrgenommen hatten. Die Staatsausgaben schnellten damals nach oben, das Maßhalten war nicht gefragt. Finanz- und Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) trat im Juli 1972, wenige Monate vor dem Wahltag, zurück und begründete das mit den Worten: „Ich bin nicht bereit, eine Politik zu unterstützen, die nach außen den Eindruck erweckt, die Regierung lebe nach dem Motto: Nach uns die Sintflut.“

„Willy Brandt muss Kanzler bleiben“: Der Rückhalt für den SPD-Politiker in der Bevölkerung war gewaltig. | Foto: Josef H. Darchinger/Archiv der sozialen Demokratie

Die SPD richtete ihren Wahlkampf ganz auf den Kanzler aus. „Willy Brandt muss Kanzler bleiben“ stand auf den Plakaten, oder auch „Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land!“ Auf Plastik-Plaketten, die man sich mit einer Sicherheitsnadel an den Pullover heften konnte, stand in weiß und hellem Rot „Willy wählen“. Noch Jahre später trafen sich SPD-Aktive zu Feiern, bei denen sie sich gemeinsam erinnerten an diesen Wahlkampf, der so materialreich und engagiert betrieben wurde wie kaum einer zuvor. Die CDU verdrängte den Termin eher, kein Wunder, für sie endete das alles ja mit einer Niederlage. Sie hatte mit ihrem Spitzenkandidaten Rainer Barzel ein Motto gewählt, das man wohl vornehmlich wirtschaftspolitisch verstehen musste: „Wir bauen den Fortschritt auf Stabilität“. Auf den Großflächenplakaten, die seinerzeit noch seltener waren als heute, war nicht Barzel allein zu sehen, sondern neben ihm Franz-Josef Strauß, der frühere Bundesaußenminister Gerhard Schröder und der CDU-Sozialpolitiker Hans Katzer, alle vor einem himmelblauen Hintergrund. Die Art, wie die Fotos dieser Männer zusammengestellt waren, wirkte nicht gerade professionell. Da erschien der gütig lächelnde, braungebrannte Willy Brandt als Porträtfoto schon viel sympathischer. Brandt war die dominante Figur des Wahlkampfes, er weckte Empathie. Sein Bild war so überragend, wie er in seiner wirklichen Amtsführung nie gewesen ist.

Rainer Barzel (vorne) und sein Wahlkampfteam: Franz-Josef Strauß, Gerhard Schröder und Hans Katzer. | Quelle: Konrad Adenauer Stiftung

Der Wahlkampf vor dem Wahltag am 19. November 1972 wurde erbittert geführt, Deutschland war politisiert wie selten zuvor – und auch selten danach. Niemand konnte sich dem Wahlkampf entziehen. Der Bekennermut der Anhängerschaft trat deutlicher denn je auf, obwohl die Neigung, Parteipolitik mit Autoaufklebern zu zeigen, erst in den späten siebziger Jahren verbreiteter wurde (und heute wieder verpönt ist). Wenn man sich das Wahlresultat anschaut, sind die Verschiebungen relativ klein – die Union verlor gegenüber der Bundestagswahl 1969 nur 1,2 Prozentpunkte und landete bei 44,9 Prozent, die SPD legte 3,1 Prozentpunkte hinzu auf 45,8 Prozent, die FDP verbesserte sich um 2,6 Punkte auf 8,4 Prozent. Die sozialliberale Koalition war also bestätigt worden. Und doch wirkte das alles irgendwie gewaltig und einprägsam, fast epochal, die Niederlage der Union fühlte sich vernichtend an und der Sieg von Brandt grandios, obwohl doch die CDU/CSU-Verluste sich – ebenso wie die Gewinne der Sieger – eher in Grenzen hielten. Gern wird heute von „Richtungswahl“ gesprochen, als ob ein Kanzler Rainer Barzel die Kontakte nach Osteuropa und in die Sowjetunion abgebrochen hätte oder eine Phase des verstärkten kalten Krieges eingeleitet hätte. Das dürfte übertrieben sein, zumal auch maßgebliche Kräfte in der CDU/CSU für eine neue Ostpolitik standen, wie sie elf Jahre später dann ja auch vom Kanzler Helmut Kohl fortgesetzt worden war.

Beim Misstrauensvotum fehlen Barzel zwei Stimmen

Was hat nun diese Bundestagswahl 1972 so besonders gemacht? Es war vermutlich die Vorgeschichte, die wie eine Regieführung zu einem spannenden Politthriller anmutete. Aus Protest gegen Brandts Ostpolitik hatten mehrere Abgeordnete der FDP und auch der SPD ihre Bundestagsfraktionen verlassen und sich der CDU/CSU angenähert. Die Union rechnete sich aus, bei einem Misstrauensvotum im Bundestag Brandt ablösen zu können – und ein entsprechender Antrag wurde im Frühjahr 1972 gestellt, Barzel wurde der Kandidat der Union. Bei der geheimen Abstimmung fehlten Barzel dann aus dem eigenen Lager zwei Stimmen, Brandt wurde mit tosendem Jubel im Bundestag am 27. April 1972 gefeiert, das gegen ihn gerichtete Misstrauensvotum war abgewehrt worden. Wie man heute ziemlich sicher vermutet, hatte die Stasi ihre Finger im Spiel und mindestens zwei Abgeordnete der CDU/CSU unter Druck gesetzt, beziehungsweise bestochen. Diese Stasi-Verstrickung kam aber erst Jahre nach dem Ereignis ans Tageslicht. Direkt nach dem gescheiterten Misstrauensvotum war die CDU/CSU zunächst erschüttert und bekam die denkbar schlechtesten Startvoraussetzungen für den Bundestagswahlkampf. Diese Abläufe im Frühjahr tragen einen großen Anteil zur stimmungsmäßigen Aufladung dieses Wahljahres 1972 bei.

Noch etwas ist auffällig in der Rückschau: Die Politisierung der damaligen Jahre bedeutete auch eine Verjüngung der Parteien – reformwillige Jugendliche strömten in die Parteien, Profiteure waren nicht nur SPD und FDP, sondern auch die CDU/CSU. Sogar die rechtsextreme NPD, die Anfang der 70er Jahre ihre Hochzeit schon wieder hinter sich hatte, war von dieser Bewegung erfasst worden. Künstler und Schauspieler, die sich sonst öffentlich zurückhielten, mischten sich jetzt aktiv in die Kampagne ein, vor allem auf der Seite von Brandt. Diese Dominanz des Politischen ging sogar so weit, dass ein anderes großes Ereignis, der verheerende Sturm vom 13. November 1972 (sechs Tage vor dem Wahltag) medial längst nicht so hohe Wellen schlug wie es heute in vergleichbaren Situationen der Fall wäre. Allein in Niedersachsen starben bei diesem Sturm mehr als 20 Menschen. Niemand wäre damals auf die Idee gekommen, den Wahlkampf angesichts einer solchen Naturkatastrophe zu unterbrechen. Das wäre heute wohl anders.