Die Frage, die heute vor dem Verwaltungsgericht Hannover verhandelt wird, kann schlimmstenfalls für eine Person besonders harte Folgen haben – für den Landrat von Hameln-Pyrmont, Dirk Adomat  (SPD). Dieser war am 5. April vergangenen Jahres in einer Stichwahl mit 51,1 Prozent zum neuen Landrat gewählt worden – gegenüber 48,7 Prozent, die sein Gegenkandidat Torsten Schulte von den Grünen erhalten hatte. Das waren 1262 Stimmen Vorsprung.

An der Ordnungsmäßigkeit der Wahl an sich gibt es keine Zweifel, der Wahlkampf war fair, die Bewerber begegneten sich mit Respekt, über Pannen oder Behinderungen im Ablauf ist nichts bekannt. Dennoch war diese Stichwahl außergewöhnlich, denn die Kreisverwaltung hatte zuvor entschieden, dass sie ausschließlich als Briefwahl ablaufen sollte. Das heißt, dass jeder volljährige Bürger des Landkreises, der wahlberechtigt war, die Unterlagen nach Hause geschickt bekam, sie dort ausfüllen, eintüten und zurückschicken musste. Er konnte es nicht, er musste es.

In und um Hameln musste der Landrat coronabedingt per Briefwahl gewählt werden – Foto: querbeet / Getty Images

Nun sind Briefwahlen nichts Ungewöhnliches, aber üblicherweise sind sie freiwillig – und vor vielen Jahren noch musste man einen besonderen Grund angeben, wenn man per Brief wählen wollte, etwa eine berufliche Verhinderung am Wahltag oder eine Erkrankung, die das Verlassen der eigenen Wohnung nicht erlaubte. Diese strengen Vorgaben sind inzwischen nicht mehr üblich, aber an der Freiwilligkeit der Briefwahl hält der Gesetzgeber bisher fest. In Hameln-Pyrmont war es am 5. April 2020 allerdings anders, hier verfügte die Kreisverwaltung die Briefwahl als einzige Chance der Wahlteilnahme. Wegen der damals grassierenden ersten Corona-Welle sollten die sozialen Kontakte heruntergefahren werden, und Besuche in Wahllokalen, vom Schlange-Stehen bis zum Aufenthalt in den Wahlräumen, galten als viel zu gefährlich. Auch in anderen Ländern, etwa in Bayern, wurde dieser Weg beschritten.

Doch zwei Bürger des Kreises Hameln-Pyrmont legten Einspruch gegen die Zwangs-Briefwahl ein, der Kreistag wies diese vergangenen September zurück – und einer der beiden, der Unternehmer Bernard Heyen aus Hessisch Oldendorf, zog vor das Verwaltungsgericht. Die mündliche Verhandlung ist nun an diesem Donnerstag, und von der Großen Koalition im Landtag wird der Termin nicht ohne Anspannung verfolgt: In der jüngsten Sitzung des Landtags-Innenausschusses regten Vertreter von SPD und CDU an, man möge über eine Rechtsänderung im Kommunalrecht nachdenken.

Für den Fall nämlich, dass das Gericht die Zwangs-Briefwahl für unzulässig halten sollte, würde Adomat sein Amt verlieren – und zwar ohne eigene Schuld, denn an der Entscheidung über das im Kreis vorgegebene Wahlverfahren hatte er nicht mitgewirkt. Für solche Fälle indes sind keine Versorgungsregeln geschaffen worden – Adomat stünde also am Ende ohne jegliche Pensionsansprüche da, und das wäre ungerecht, da er sein Amt in diesem Fall ja nicht wegen eigener Verfehlungen einbüßen würde, sondern wegen Umständen, für die er nichts kann.

Ein paar Unschönheiten begleiten das Verfahren

    Wie argumentieren nun die beiden Seiten? Der Kläger Bernard Heyen, ein Unternehmer für Arbeitsschutz-Systeme aus Hessisch Oldendorf, sieht in der Zwangs-Briefwahl eine zu hohe Manipulationsgefahr. Zwar sei die Allgemeinheit der Wahl gewährleistet, aber nicht die Anforderung, dass eine Wahl geheim ablaufen müsse. Wenn häusliche Umstände dafür sprechen, dass Wahlberechtigte kaum in der Lage sein können, frei und unbeaufsichtigt ihre Stimme abzugeben, wenn sie aus diesem Grund sonst immer selbst ins Wahllokal gegangen sind, dann sei ihnen dieser Weg versperrt worden.

Die Gegenseite erwidert, dass diese Manipulation nur theoretisch behauptet werde, dass aber Belege für mangelhafte Geheimhaltung fehlten. Bei einem Unterschied von 1200 Stimmen sei der Abstand auch groß genug, um denkbare Unregelmäßigkeiten als nicht wahlentscheidend einzustufen. Aber, erwidert der Kläger, kann es bei den prinzipiellen Vorbehalten gegenüber einer Zwangs-Briefwahl wirklich um die Wahrscheinlichkeiten einer Manipulation gehen – oder geht es nicht vielmehr ums Prinzip? Ein zentrales Argument des Klägers bezieht sich noch darauf, wer die Anordnung zur Zwangs-Briefwahl getroffen hatte – nämlich die Kreisverwaltung. Diese habe sich auf die damalige Fassung des Bundesinfektionsschutzgesetzes bezogen. Dieses aber habe zwar das Untersagen von „Veranstaltungen“ vorgesehen, dazu könnten demokratische Wahlen aber nicht gezählt werden.

Für die Organisation von Wahlen sei zudem der Kreistag zuständig, nicht die Kreisverwaltung. Und ein Gesetz, das für Pandemie-Fälle ein Verschieben von Wahlen oder eine verbindliche Briefwahl vorsieht, hatte es zu dem Zeitpunkt in Niedersachsen noch nicht gegeben. Die Gegenseite bestreitet das nicht, verweist aber auf die Dramatik der Lage beim Corona-Ausbruch im Frühjahr 2020. Man habe sich anders nicht zu helfen gewusst, und in der Notlage sei die Vorgabe angemessen gewesen.

Klicken Sie auf den unteren Button, um den Inhalt von Soundcloud zu laden.

Inhalt laden

Ein paar Unschönheiten am Rande begleiten nun dieses Verfahren. Der Kreiswahlleiter hatte zunächst eine Rechtsanwaltskanzlei mit dem Fall betraut, die sowohl mit der Vorbereitung der Kreistagsentscheidung über die Wahleinsprüche als auch mit den Anfechtungen zu tun haben sollte – beim geäußerten Verdacht auf Interessenskollision zog sich das Büro dann zurück. Jetzt ist auf Wunsch von Landrat Adomat, der sich über eine Beschwerde beim OVG als Beteiligter in den Prozess quasi „hineingeklagt“ hatte, der Bonner Verfassungsjurist Thomas Mayen bestellt worden, der versuchen dürfte, verfassungsrechtliche Zweifel an einer Zwangs-Briefwahl zu zerstreuen. Sollte der Landkreis verlieren und Adomat damit nach vorläufigem Urteil seinen Landratsposten, so ist sicher mit der zweiten Instanz beim OVG Lüneburg zu rechnen. Sollte Bernard Heyen der Unterlegene sein, der seine Klage aus dem Privatvermögen finanziert, ist über einen nächsten Schritt noch nichts entschieden, erläutert sein Anwalt Jörn Hülsemann gegenüber dem Politikjournal Rundblick.

Eines ist jedenfalls sicher: Die Streitfrage, um die es am Donnerstag erst einmal vor dem Verwaltungsgericht Hannover geht, wird wohl bundesweit auf großes Interesse stoßen. (kw)