Darum geht es: In Osnabrück hat eine SPD-Landtagsabgeordnete, die als Hoffnungsträgerin der Partei gilt, ihre Nominierung für die Landtagswahl wegen drohender Überlastung überraschend zurückgegeben. Muten wir den Politikern zu viel zu? Ein Kommentar von Klaus Wallbaum.

„Ich bin nicht gewillt, meine Familie und mein Seelenheil einer feministischen Fata Morgana zu opfern“: Kathrin Wahlmann

Es wäre wünschenswert, wenn der Fall der SPD-Politikerin Kathrin Wahlmann größere Beachtung in der Landespolitik finden würde. Man sollte nach dem überraschenden Verzicht der 39-Jährigen auf eine neue Landtagskandidatur nicht zu schnell mit einem Achselzucken zur Tagesordnung übergehen. Vielmehr stellt sich jetzt eine sehr ernste Frage: Was läuft schief im politischen Geschäft, dass sich eine Frau der jüngeren Generation, Mutter zweier kleiner Kinder, nach vier Jahren eine weitere Tätigkeit als Volksvertreterin nicht mehr zutraut?

Seit Frühjahr 2013 arbeitet die frühere Richterin im Landtag, in dieser Zeit bekam sie ihr zweites Kind. Kathrin Wahlmann ist Mitglied in fünf Ausschüssen und in zwei Kommissionen, außerdem im Islamismus-Untersuchungsausschuss, der nicht selten bis spät am Abend tagt. Sie betreut drei Wahlkreise, ist Sprecherin der Weser-Ems-Abgeordneten ihrer Fraktion und außerdem Vorstandsmitglied im SPD-Bezirk. Wenn sie in Hannover ist, hat sie einen vollen Terminkalender. Damit sie von Georgsmarienhütte nach Hannover kommt, muss sie lange Autofahrten zurücklegen – zwei Stunden hin und zwei Stunden zurück. Die Zugfahrt ginge zwar auch, würde aber viel länger dauern, denn die Verbindung ist schlecht. Am Wochenende muss sie sich im Wahlkreis überall mal sehen lassen. Freie Zeit ohne Politik bleibt da kaum.

Lesen Sie auch: 

 

Schon lange plagt Kathrin Wahlmann, wie sie berichtet, der Zwiespalt zwischen den Anforderungen der Politik und ihrem Familienleben. Sie ließ sich dann überzeugen, doch noch einmal zu kandidieren – merkte aber anschließend, dass sie das Mandat wohl nur halbherzig ausüben kann, wenn sie ihren selbstgesetzten Ansprüchen genügen will. „Ich wollte nie eine von den Frauen sein, die ihre Karriere zugunsten der Kinder opfern. Aber auf der anderen Seite bin ich auch nicht gewillt, meine Familie und mein Seelenheil einer feministischen Fata Morgana zu opfern“, schreibt Wahlmann an ihre Kollegen in der SPD-Landtagsfraktion. Also steht für die Politikerin inzwischen fest: Sie hört erst einmal auf mit der Landtagsarbeit.

Die Probleme von Kathrin Wahlmann treffen für viele von denen zu, die sich in den politischen Betrieb begeben. Politische Arbeit besteht aus unendlich vielen Sitzungen, Gesprächsrunden und Arbeitskreistreffen, deren Effektivität oft in keinem Verhältnis zum Zeitaufwand steht. Wenn das Tageswerk getan ist, folgen die nächsten Treffen. Abgeordnete müssen sich sehen lassen, ansprechbar sein, Probleme aufgreifen und Lösungswege finden. Sie sind ein Scharnier zwischen der Bevölkerung im Wahlkreis und den Ministerien – und sie sind dafür auf Netzwerke angewiesen, auf Unterstützer und Mitstreiter. Im Landtag in Hannover herrscht wie in anderen Parlamenten, etwa dem Bundestag, ein ungeschriebenes Gesetz: Wer Einfluss haben will, muss mitmischen. Abend für Abend treffen sich immer dieselben Leute bei unterschiedlichen Anlässen, und wer ausschert, riskiert zweierlei: Erstens kann schlecht über ihn geredet werden, zweitens kann er wegen seiner Verweigerung an Gewicht verlieren. Der politische Betrieb ist wie ein große Mühle, die Politiker geraten zwischen die Räder – und viele stumpfen ab oder spüren früher oder später, dass sie Objekte und keine Subjekte mehr sind, dass ihnen in der ganzen Terminflut die Kraft zum Gestalten verloren gegangen ist.

Das ist, um es klar zu sagen, nicht Sinn des parlamentarischen Systems: Volksvertreter sollen, auf gehobenem Niveau, den Querschnitt des Volkes repräsentieren. Deshalb ist es sinnvoll, wenn Mütter von kleinen Kindern in der Politik mitwirken, da sie beispielsweise die Kinderbetreuung oder auch die Schulpolitik aus einer ganz anderen Perspektive sehen können. Hätte man Kathrin Wahlmann halten können, obwohl das System so funktioniert wie es funktioniert? Hätte sie mit einer anderen Arbeitseinstellung eine Chance gehabt? Das Beispiel von Ursula von der Leyen zeigt schon, dass es klappen kann. Die Bundesministerin hat jahrelang die Abendtermine auf Sparflamme gehalten, damit sie ihre Kinder und ihren Mann sehen kann. Allerdings: Sie war ziemlich zu Beginn ihrer Karriere im Landtag und später im Bundestag schon Ministerin – und über gute Netzwerke gefestigt ebenso. Für jemand, der sich das alles erst aufbauen muss, sind derartige Freiheiten viel schwieriger – und, wenn man ehrlich ist, gegenwärtig wohl kaum durchsetzbar.

Vielleicht gibt der Fall Wahlmann Anlass zur Selbstreflexion der Politiker über den Politikbetrieb. Reformbedarf gibt es dort nämlich zuhauf.

Mail an den Autor dieses Kommentars