Foto: Scheffen, Link

Mal angenommen, es säße im Landtag eine Gruppe von Abgeordneten, die ernsthaft das Ziel verfolgt, das parlamentarische System als ungeeignet zu entlarven. Wie müsste diese Gruppe vorgehen, um Belege für ihre Ansicht herbeizuschaffen? Sie müsste erstens dafür sorgen, dass notwendige Gesetze und Verordnungen nicht schnell genug in Kraft gesetzt werden – indem diese im unendlichen Ringen um Details verzögert und verschleppt, ja zerredet werden. Und sie müsste zweitens erreichen, dass kluge Vorschläge nicht angenommen werden, sondern sich eine Mehrheit den naheliegenden Einsichten verschließt. Dann wäre der Beweis erbracht, dass im Parlamentarismus parteipolitische Verblendung über die Vernunft siegt. Wie könnte diese Gruppe also ihren Plan umsetzen?

Sie könnte Streit sähen und dafür sorgen, dass die anderen Parteien nicht zu Kompromissen fähig sind. Würde man jetzt der niedersächsischen AfD-Landtagsfraktion unterstellen, sie verfolge das Ziel einer Schwächung des repräsentativen Systems (was die AfD selbst vehement als Verleumdung zurückweist), dann müsste man feststellen: Einen Erfolg könnte die AfD nicht erreichen, denn SPD, CDU und Grüne rücken gegenwärtig in ihrer Gegnerschaft zur AfD enger aneinander als je zuvor.

AfD gibt sich in der neuen Legislaturperiode betont bürgerlich

Die nächste Strategie könnte darin bestehen, die klügsten Ideen vorzutragen in der Gewissheit, dass SPD, CDU und Grüne aus Prinzip nein dazu sagen werden. Denn – um beim fiktiven Bezug zur AfD zu bleiben – der Absender wäre ja die AfD, also ein unwillkommener und ausgegrenzter. Dass dies im niedersächsischen Landtag passieren kann, ist nach derzeitigem Stand durchaus wahrscheinlich. Denn in der neuen Legislaturperiode gebärdet sich die AfD betont bürgerlich, einige von ihren Vorschlägen klingen ganz so, als könnte als Autor auch SPD, CDU oder FDP draufstehen. Derzeit ist nicht ausgeschlossen, dass die AfD dann in einigen Jahren eine schöne Liste mit annehmbaren Vorschlägen vorzeigen wird mit dem Zusatz: „Das haben die anderen nur deshalb abgelehnt, weil sie sich aus Prinzip unseren Vorschlägen verweigert haben. Denn sie waren borniert.“

Wie gesagt: Diese Gefahr ist gegenwärtig real. Nun mag man fragen: Warum ist das eine Gefahr? Was ist Schlimmes daran, eine Partei aus Prinzip auszugrenzen – zumal es doch bewiesen ist, dass Mitglieder dieser Partei Kontakte zu Rechtsextremisten haben, ja sogar an Umsturzplänen beteiligt waren? Der Bürger wird doch verstehen, dass jeder noch so überzeugend formulierte Antrag der AfD aus einer rechtsextremen Ecke kommt, oder? Dass das Sachliche nur vorgetäuscht ist?

AfD-Politiker sind fest in der Kommunalpolitik verankert

Gegen diese Haltung ist nun folgendes einzuwenden: Ja, die AfD lässt seit einigen Jahren verstärkt eine harte Abgrenzung zum rechten Rand, zum „Höcke-Flügel“, vermissen. Sie hat es nicht geschafft, sich gegen rechtsextreme Strömungen abzuschotten. Doch dass alle AfD-Politiker das geheime Ziel einer Änderung des politischen Systems verfolgen würden, ist eine Unterstellung, für die Belege fehlen. Auch in Niedersachsen sind AfD-Politiker in der Kommunalpolitik verankert, sie werden von großen Teilen der Bevölkerung als vertretbare Zeitgenossen wahrgenommen. Wenn man sie als „Rechtsextremisten“ oder noch schlimmer als „Nazis“ bezeichnet, wie es gerade aus der rot-grünen Ecke oft verlautet, ist das nicht nur ungerecht. Diese Bezeichnung widerspräche auch der Wahrnehmung, die viele Menschen in der Kommunalpolitik von diesen AfD-Leuten haben. Daher sollten sich SPD, CDU und Grüne hüten, auf dem hohen Ross zu sitzen und die anderen als Anti-Demokraten zu beschimpfen – wenn sie den Beweis für ihre Vorwürfe nicht antreten können. Und: Wenn sie selbst damit auch angreifbar werden.

Viel wichtiger noch ist nämlich die Zerbrechlichkeit des Grundprinzips der parlamentarischen Demokratie: Es gibt Beratungen und Debatten, wiederholte Debatten und dann Entscheidungen. Die Stärke des Systems beruht eben nicht auf einer „Diktatur der Mehrheit“, sondern auf dem sachlichen Dialog der politischen Kräfte. Der verbale Austausch zwischen den Fraktionen soll eben nicht ein Ritual zur Profilstärkung der eigenen Reihen sein. Es geht ausdrücklich auch darum, in der Rede des Gegners gute Argumente für die Verbesserung der eigenen Position zu finden und die Qualität des Ergebnisses zu verbessern. Im Sinne des Gemeinwohls. Viel zu selten passiert gegenwärtig so etwas, und völlig vernichtet wird dieses Prinzip in der Praxis, wenn allein der Absender AfD zum Ausschluss aller ihrer vorgetragenen Argumente in der Entscheidungsfindung führt. Es ist absolut verständlich, dass SPD, CDU und Grüne jegliche gemeinsamen Anträge oder Projekte mit der AfD verweigern. Das Argument überzeugt: Mit einer Partei, die sich gegen Rechtsradikale nicht abschottet, kann man nicht paktieren. Gleichzeitig muss aber gelten, dass man im Parlament die Vorschläge der AfD aufgreift und sachlich diskutiert, gerade dann, wenn die Initiativen einleuchtend klingen. So hat man es schließlich auch mit der Linkspartei gemacht, als sie noch PDS hieß und ein Sammelbecken der alten DDR-Eliten war.