Der Unternehmensberater Heino Wiese ist russischer Honorarkonsul in Niedersachsen. Vehement wirbt er dafür, die engen Kontakte zu Russland nicht abreißen zu lassen. Wiese war zwischen 1990 und 2003 bei der SPD in Niedersachsen beschäftigt, mehrere Wahlkämpfe hat er geleitet. Im Gespräch mit der Redaktion des Politikjournals Rundblick äußert er sich zur aktuellen deutschen Außenpolitik – und zur Lage der SPD.

Heino Wiese beim Rundblick-Redaktionsbesuch. Foto: Gartz

Rundblick: Herr Wiese, die CDU erneuert sich an der Spitze. Die SPD-Vorsitzende möchte offenbar weiter im Amt bleiben und die Partei verändern. Was halten Sie als langjähriges SPD-Mitglied davon?

Wiese: Es muss Veränderungen an der Spitze der SPD geben. Jeder Tag, an dem Andrea Nahles und Ralf Stegner so weitermachen wie bisher, wird die Partei in den Umfragewerten nach unten drücken. Und jede neue Umfrage, die uns auf diesem extrem niedrigen Niveau zeigt, löst schlechte Stimmung an der Basis aus. Manche äußern die Ansicht, die Partei könne sich nur aus der Opposition heraus erneuern. Da möchte ich auf die SPD-Landesverbände in Bayern und Baden-Württemberg verweisen – dort ist diese Strategie Dauerzustand, das Ergebnis ist mehr als ernüchternd. Wir haben es in der aktuellen Debatte zudem mit einem Missverständnis zu tun: Angeblich müsse die SPD weiter nach links rücken. Nun frage ich mich: Wo sollen die vielen Wähler sein, die wir in der linken Ecke abholen wollen? Diejenigen, die Linkspartei wählen, dürften beim Original bleiben. Nein, wir müssen in der Mitte die Wähler gewinnen.

Rundblick: Also ist der Versuch von Andrea Nahles, sich von den Hartz-Reformen zu verabschieden, zum Scheitern verurteilt?

Wiese: Ja, so ist es. Auch weil es in der Regierung dafür keine Mehrheit gibt und es damit eine leere Versprechung bleibt. Die SPD muss sich stärker an der Mitte orientieren. Wenn die Parteiführung glaubt, sie gewinne Profil vor allem dadurch, dass sie sich von den bisher prägenden Politikern absetzt – also von Gerhard Schröder, Franz Müntefering und Sigmar Gabriel -, dann unterliegt sie einem Irrtum. Diese Form der Distanzierung ist hochschädlich. Erklären Sie doch mal in einem SPD-Ortsverein, dass die Agenda 2010 ein Fehler gewesen sei. Das ist doch eine Reform gewesen, die viele einfache Mitglieder der SPD an der Basis mit Überzeugung vehement verteidigt haben. Wenn man ihnen nun sagt, das sei verkehrt gewesen, dann sind sie nicht nur irritiert. Diese Menschen fühlen sich dann irgendwann nicht mehr zuhause in der SPD.

Die Wohnungsbaupolitik ist ein Markenkern

Rundblick: Wie kann die SPD ihr Profil wieder erneuern?

Wiese: Beispielsweise, dass unser Markenkern, die Entspannungspolitik, wieder deutlich vertreten wird. Aber auch in der Entwicklungshilfe. Gerd Müller von der CSU macht da eine gute Politik. Aber nun kommt es vor, dass an einem Tag der Bundesaußenminister Heiko Maas erklärt, die SPD werde Afrika „nicht vergessen“, gleichzeitig aber verweigert Bundesfinanzminister Olaf Scholz die nötigen Mittel für den „Marshallplan“, den Entwicklungshilfeminister Müller vorgeschlagen hat. Das geht so nicht. Außerdem ist die Wohnungsbaupolitik ein Markenkern. Aber anstatt über die Details der ungeeigneten Mietpreisbremse zu brüten, sollte die SPD lieber Wege finden, wie mit mehr Konkurrenz und mit Bauprogrammen der Neubau von bezahlbaren Wohnungen angekurbelt werden kann.

Rundblick: Mit wem an der Spitze kann die SPD wieder nach vorn kommen? Wäre Sigmar Gabriel jemand, der das könnte?

Wiese: Ich bin mit Sigmar Gabriel befreundet und ich weiß: Er ist keine Allzweckwaffe. Wir alle kennen seine Defizite. Aber er ist intellektuell den meisten anderen weit voraus, er hat politische Ideen und er hat den Mut, diese Dinge anzupacken. Ich meine, die SPD kann es sich nicht leisten, auf Gabriel zu verzichten. Ihm ist oft Sprunghaftigkeit und mangelnde Konsequenz vorgehalten worden. Aber ich denke, als Bundesaußenminister hatte er die Kurve gekriegt.

Robert Habeck als Kanzlerkandidat?

Rundblick: Wäre Gabriel ein guter Kanzlerkandidat? Wann ist der Zeitpunkt für Veränderungen gekommen?

Wiese: Im Moment muss sich die SPD eher die Frage stellen, ob sie Robert Habeck als Kanzlerkandidaten unterstützen würde. Nein, das Hauptproblem lautet heute: Wer kann die SPD vor dem Untergang retten? Andrea Nahles agiert defensiv, sie zieht sich in eine Wagenburg zurück und grenzt bestimmte Gruppen, etwa die Anhänger der Hartz-Reformen, aus der Partei aus. Nötig wäre es aber, zu integrieren statt auszugrenzen. Die Stärkung der Integrationskraft traue ich Sigmar Gabriel zu. Wann die SPD bereit ist für Änderungen, weiß ich nicht. Im Mai sind Bürgerschaftswahlen in Bremen, dort könnte ebenso wie bei der Europawahl am gleichen Tag ein Debakel drohen. Wenn das so käme, sind Veränderungen unausweichlich.

Rundblick: Was halten Sie von der aktuellen sozialdemokratischen Außenpolitik?

Wiese: Es gab einmal ein sozialdemokratisches Profil in der Außenpolitik, das von den Außenministern Frank-Walter Steinmeier und Sigmar Gabriel geprägt wurde. Sie pflegten enge Kontakte, während Kanzlerin Angela Merkel gegenüber Russland immer etwas gefremdelt hat – womöglich, weil sie das gute Verhältnis zu den USA nicht trüben wollte. Steinmeier und Gabriel versuchten, den Russen Vertrauen zu geben. Das hat Heiko Maas mit seiner betont Russland-kritischen Antrittsrede kaputtgemacht, er hat die Russen als Feind hingestellt – und die Russen werden das in 20 Jahren nicht vergessen. Maas hat sich damit aus dem Spiel genommen, Merkel hat in der Diplomatie die Leerstelle eingenommen und sich selbst schon dreimal mit Putin getroffen. Was jetzt nötig wäre ist eine Initiative, einen Friedensvertrag für Syrien zu erreichen. Es kann im Interesse von niemandem sein, wenn der Flüchtlingsstrom weiter anhält. Und was die Krise in der Ukraine angeht: Vor den dortigen Wahlen dürfte es keine wesentliche Bewegung geben. Aber auch hier ist eine Verständigung gut vorstellbar, Gabriel hat einmal die Stationierung von Blauhelmen vorgeschlagen.

Deutsche Wirtschaft hat noch keine Antworten gefunden

Rundblick: Zu den Russland-Sanktionen haben Sie eine eindeutige Haltung…

Wiese: Die niedersächsische Wirtschaft hat in den vergangenen vier Jahren einen Marktanteil von 40 bis 60 Prozent bei den Russland-Geschäften verloren. In Kalmückien sollte ein Windpark gebaut werden, wegen der Sanktionen klappte das nicht – und in die Lücke sind die Amerikaner vorgedrungen, die schlau genug waren, mit bis zu 700 Ausnahmen ihre eigenen Sanktionen durchlässig zu machen. Auf solche Entwicklungen hat die deutsche Wirtschaft bisher keine richtige Antwort gefunden. Meine Haltung ist klar: Mit dem Bau einer Autofabrik in Kaluga hat Volkswagen die Arbeitskultur exportiert, die Mitbestimmungskultur und eine Haltung, die die Menschen hat selbstbewusster auftreten lassen. Sie haben dort überhaupt erst kennengelernt, wie Projektmanagement funktioniert. Die Löhne sind in der Region gestiegen. Das ist das Modell „Demokratisierung und Wohlstand durch Vorbild“. Die Wirtschaftssanktionen haben dazu geführt, dass Russland sich auf die eigene Stärke besonnen hat. Ich halte die Ansiedlung eines VW-Werkes für zehnmal wertvoller als irgendeine Wirtschaftssanktion.