Ein Kanzlerkandidat ist Christian Lindner nicht, trotzdem will der FDP-Bundesvorsitzende und Spitzenkandidat seiner Partei nach der Bundestagswahl die Politik in Deutschland wesentlich mitbestimmen. Im Interview mit der Redaktion des Politikjournals Rundblick äußert er sich zur bundespolitischen Stimmungslage, zu dem möglichen Koalitionsoptionen und zur Schuldenbremse.

Rundblick: Wie erklären Sie sich den Höhenflug der SPD in den Umfragen? Lag es an Fehlern der CDU? Oder drückt sich darin eine Abkehr von der bisherigen christdemokratischen Kanzlerschaft aus?
Lindner: Die SPD profitiert von der Popularität ihres Kanzlerkandidaten, der das linke Programm seiner Partei bislang gekonnt kaschiert. Mit Blick auf die Union ist es nicht an mir, auf Fehler hinzuweisen oder Kopfnoten zu verteilen. Allerdings gibt mir ihr Kurs zuweilen Rätsel auf: Im Wahlprogramm der Union stehen zum Beispiel Steuerentlastungen. Aber inzwischen schließt Armin Laschet sogar Steuererhöhungen nicht aus. Die Union fährt Schlangenlinien. Allein die FDP sagt nun: Nach einer Wirtschaftskrise darf es keine neuen Belastungen für die Menschen und unsere Betriebe geben und für all jene, die Verantwortung für Arbeitsplätze tragen.
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Rundblick: Wie beurteilen Sie die Schwerpunktsetzung der Themen im Wahlkampf? Ist über die ernsten Themen der Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftspolitik ausreichend gestritten worden?
Lindner: Nach meinem Empfinden hat der Wahlkampf in Teilen einen geradezu infantilen Charakter angenommen. Mir kommen die Zukunftsfragen zu kurz. Unser Land steht vor einer Richtungsentscheidung. Es wird mehr über Nebensächlichkeiten im Verhalten der Kandidaten gesprochen als über den Zustand des Bildungssystems, wie wir unsere Wirtschaft durch Technologie statt mit Verboten klimaneutral und gleichzeitig wettbewerbsfähig machen oder welche außenpolitische Rolle Deutschland in Zukunft einnehmen soll – eine Frage, über die im jüngsten Triell der Kanzlerkandidaten trotz des Fiaskos in Afghanistan kein Satz verloren wurde.
"Dass nicht einmal gemäßigte Sozialdemokraten und Grüne ein solches Linksbündnis ausschließen, zeigt, dass diese Konstellation eine reale Option ist."
Rundblick: Was die Koalitionsoptionen angeht, wird viel diskutiert über ein rot-rot-grünes Bündnis. Die CDU warnt davor – halten Sie diese Warnungen für angebracht? Drohen aus Ihrer Sicht bei einem rot-rot-grünen Bündnis gravierende Veränderungen in der deutschen Politik?
Lindner: Dass nicht einmal gemäßigte Sozialdemokraten und Grüne ein solches Linksbündnis ausschließen, zeigt, dass diese Konstellation eine reale Option ist. Was das für unser Land, für Arbeitsplätze und Wirtschaftskraft oder für unsere Außenpolitik bedeuten würde, kann jeder in den Programmen von SPD, Grünen und Linkspartei nachlesen und in Berlin oder Bremen schmerzlich erleben. Unser Ziel ist es deshalb, so stark zu werden, dass ein Linksbündnis keine Mehrheit findet und wir unser Land aus einer Regierung der politischen Mitte heraus gestalten können.
"Eine weitere Verschiebung der Bundespolitik nach links wird es mit uns nicht geben."
Rundblick: Wären Sie bereit für eine Ampel-Koalition unter Führung von Olaf Scholz? Was wären die Bedingungen, die die FDP an ein Zustandekommen eines solchen Bündnisses stellen würde?
Lindner: Wir sind bereit zur Übernahme von Verantwortung. Bei der Entscheidung über Koalitionen zählen für uns aber die Inhalte. Die Partei von Willy Brandt hat immer unseren Respekt, doch mir fehlt die Phantasie, welches Angebot Rot-Grün der FDP machen kann. 2017 haben wir einen Linksdrift der deutschen Politik verhindert, den Frau Merkel den Grünen zugestehen wollte. Darauf können die Menschen sich auch 2021 verlassen. Eine weitere Verschiebung der Bundespolitik nach links mit höheren Belastungen für die arbeitende Mitte, einer Aushebelung der Schuldenbremse und weniger Freiheit für Bürgerinnen und Bürger wird es mit uns nicht geben. Bei uns kann sich jeder Wähler und jede Wählerin sicher sein: Wir stehen zu dem, was wir vor der Wahl gesagt und zugesichert haben.

Rundblick: Warum verteidigen Sie die Regeln der Schuldenbremse? Was sagen Sie zu den vielen Stimmen, die vehement mehr Investitionen fordern, weil es in den zurückliegenden Jahren eine Vernachlässigung der Infrastruktur gegeben habe?
Lindner: Oft fehlt es nicht an Geld. Für Infrastrukturprojekte und Digitalisierung wurden Milliardensummen ins Schaufenster gestellt, die aber wegen langwieriger Planungsverfahren und überbordender Bürokratie nicht abgerufen werden. Hier müssen wir ansetzen. Wo zusätzliche Gelder nötig sind, können Sie durch Umschichtung von Subventionen oder den Verkauf von Staatsbeteiligungen bereitgestellt werden. Die Schuldenbremse aufzuweichen, wäre hingegen der grundfalsche Ansatz: Bereits jetzt spüren wir eine dynamische Preisentwicklung – die Inflationsrate ist so hoch wie seit fast 30 Jahren nicht mehr. Eine Abkehr von der Schuldenbremse wäre in dieser Lage höchst riskant, zudem ein fatales Signal nach Europa und würde nachfolgenden Generationen unverhältnismäßige Lasten aufbürden. Wir müssen schnellstmöglich zu einer nachhaltigen Finanzpolitik zurückkehren.