28. Apr. 2022 · 
Wissenschaft

Forscher aus Niedersachsen wollen neue „Europa-Cloud“­­­ mitgestalten

Positionspapier überreicht: Björn Thümler, Dr.-Ing. Agnetha Flore, Benedikt Hüppe, Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Nebel, Prof. Dr. Norbert Lossau und Stefan Muhle (von rechts nach links). Bild: MWK

Resilienz war in der deutschen Politik und Wirtschaft lange Zeit ein weitgehend unbekanntes Fremdwort. Nach Corona, globalen Lieferengpässen und einer sich abzeichnenden Energiekrise infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hat die Krisenfestigkeit aber einen neuen Stellenwert bekommen. Beim Blick auf die Cybersicherheit in Deutschland kann einem deswegen schon mal mulmig werden. Das Bundeskriminalamt (BKA) beobachtet seit Jahren eine steigende Zahl von Cyberangriffen, von denen laut einer aktuellen Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (iw) fast jeder dritte in Russland den Absender hat. Das Bundesamt für Verfassungsschutz warnte Mitte April vor einem erhöhten Maß an Cyberaktivitäten aus Russland, die sich als Reaktion auf die Sanktionen auch gegen deutsche Ziele richten können. Die Unternehmen, Kommunen und Betreiber der kritischen Infrastruktur in Niedersachsen müssen sich auf das Schlimmste gefasst machen. Auch die Dateninfrastruktur ist verwundbar, weshalb das Zentrum für digitale Innovation Niedersachsen (ZDIN) mit seinem jüngsten Vorstoß bei den zuständigen Ministerien auch offene Türen einrennt.

Projekt Gaia-X verliert seit dem Start 2019 an Fahrt

„Niedersachsen soll eine maßgebliche Rolle beim Aufbau einer sicheren, dezentral vernetzten Dateninfrastruktur in Europa spielen“, lautet die Essenz eines entsprechenden ZDIN-Positionspapiers. Die Informatiker werben dabei für das europäische Datenprojekt Gaia-X, das eine eigene „Cloud“ für den alten Kontinent aufbauen soll. Bisher spielt Europa bei der Bereitstellung von Speicherplatz, Rechenleistung oder Anwendungssoftware im Internet keine nennenswerte Rolle. Der Markt wird im Wesentlichen von fünf Anbietern dominiert: den US-Technikriesen Amazon, Google, Microsoft, IBM sowie dem chinesischen Konzern Alibaba. Ein großer Teil der europäischen Daten befindet sich also in den Fängen von „Big Tech“. Durch Gaia-X soll die alte Welt wieder ihre Datensouveränität zurückerlangen, doch das Projekt schwächelt.

„Gaia-X wird keine europäische Cloud schaffen. Es wird ein bisschen mehr Souveränität geben. Aber das ist für mich nicht genug.“

Yann Lechelle

Obwohl die Initiative zum Start 2019 noch das Ziel ausgab, innerhalb von fünf Jahren den weltweiten Markt aufzurollen, hat die Bewegung mittlerweile etwas an Fahrt verloren. „Gaia-X wird keine europäische Cloud schaffen. Es wird ein bisschen mehr Souveränität geben. Aber das ist für mich nicht genug“, unkte im Dezember 2021 der Chef des französischen Multicloud-Anbieters Scaleway, Yann Lechelle. Wie die „Wirtschaftswoche“ berichtete, verabschiedete sich Scaleway als erstes der 20 Gründungsmitglieder von dem Projekt. Nun wollen die niedersächsischen Digitalisierungsforscher in die Bresche springen und die Initiative mit neuen Ansätzen voranbringen.

Agnetha Flore I Foto: ZDIN

„Aus unseren sechs Zukunftslaboren engagieren sich bereits mehrere Wissenschaftler aktiv für Gaia-X“, berichtet ZDIN-Geschäftsführerin Agnetha Flore. Ihr Zentrum will das Knowhow aus Niedersachsen bündeln und den Expertenaustausch vorantreiben. Das ist deswegen so wichtig, weil Gaia-X überhaupt auf dem Prinzip der Dezentralisierung basiert. Statt einer einzigen „Europa-Cloud“ soll ein vernetztes System entstehen, das viele Anbieter von Cloud-Diensten miteinander verbindet. „Mit vereinten Kräften können starke Akzente gesetzt und richtungsweisende Empfehlungen ausgesprochen werden“, beschreibt Flore die mögliche niedersächsische Rolle in der Gaia-X-Genese.

„Gaia-X hat das Potenzial, den Standard für vertrauenswürdigen Datenaustausch in Wirtschaft und Wissenschaft zu setzen.“

Björn Thümler

Dahinter steckt die Hoffnung, dass sich Niedersachsen als „maßgeblicher Mitgestalter“ des Cloud-Projektes positionieren könnte. „Gaia-X hat das Potenzial, den Standard für vertrauenswürdigen Datenaustausch in Wirtschaft und Wissenschaft zu setzen“, sagt Wissenschaftsminister Björn Thümler. Der CDU-Politiker will unabhängiger von den mächtigen IT-Konzernen in USA und China werden. Thümler: „Wissenschaft und Wirtschaft, alle Nutzer sollen Daten sammeln und miteinander teilen können – aber so, dass die darüber die Kontrolle behalten.“

Norbert Lossau I Foto: Uni Göttingen

Europa-Cloud könnte Wert der Daten steigern

Von einem „digital souveränen Europa“ mit vertrauenswürdigen Datenspeichern träumt auch Prof. Norbert Lossau von der Georg-August-Universität Göttingen. „Cloud-Lösungen wie Gaia-X sind solche Angebote, die gerade mit hoher Geschwindigkeit entwickelt werden“, erläutert der Vizepräsident für Digitalisierung und betont: „Nachhaltige, digitale Wissensspeicher sind für die heutige Wissenschaft und Forschung eine unverzichtbare Voraussetzung, um neue Erkenntnisse, neue Forschungsansätze und Innovationen zu generieren.“ In der Wirtschaft sieht man das ähnlich. „Die Kompetenz und der Zugang zu Daten ist für Unternehmen ein zunehmend wichtiger Wettbewerbsfaktor“, sagt Stefan Muhle, Staatssekretär für Digitalisierung im Wirtschaftsministerium. Eine „Europa-Cloud“ hat laut Muhle das Potenzial, den Wert von Daten zu steigern und die Kosten zu reduzieren. „Damit legt Gaia-X einen wichtigen Grundstein für fairen Wettbewerb und datengetriebene Innovation“, sagt er.

Architektur von Gaia-X I Grafik: BMWI

Mehr als 500 Unternehmen unterstützen Initiative

Mehr als 500 Unterstützer hat die Cloud-Initiative Gaia-X laut dem Multi-Cloud-Anbieter Plusserver. Neben BMW, Bosch, Deutsche Telekom, Fraunhofer-Gesellschaft, SAP oder Siemens gehört die Kölner Firma zu den deutschen Gründungsmitgliedern, die weiterhin mit Hochdruck an dem Gemeinschaftsprojekt arbeiten. Die Unterstützung aus der Politik ist nicht nur in Niedersachsen, sondern auch im übrigen Europa groß. An Fördermitteln dürfte der Aufbau der gemeinsamen europäischen Dateninfrastruktur daher nicht scheitern, auch wenn die Bundesregierung kürzlich die Mittel zusammengestrichen hat. Im Bundeshaushalt 2022 droht die digitale Souveränität hinten über zu fallen. In einem offenen Brief an führende Politiker der Berliner Ampelkoalition bezeichneten der Bundesverband für digitale Souveränität, Wikimedia und andere Vereine es deswegen auch als „gänzlich unverständlich“, dass für mehrere bereits geplante Open-Source-Projekte kein Geld eingeplant wird. „Nicht nur angesichts aktueller internationaler Krisen zeigt sich deutlich, welches immense Risiko von der Abhängigkeit von einzelnen Anbietern in internationalen Märkten für unsere Wirtschaft und Gesellschaft ausgeht“, kritisieren die Unterzeichner und weisen darauf hin, dass dem Aufbau einer nachhaltigen Digitalstruktur im Koalitionsvertrag noch eine große Priorität eingeräumt worden sei.

Vielen Unternehmen ist Gaia-X noch unbekannt

Die größte Gefahr für Gaia-X ist laut Kritikern wie Scaleway-CEO Yann Lechelle die „Einmischung“ ausländischer Unternehmen in das europäische Projekt. Aus Angst vor Diskriminierung würde man darauf verzichten, die europäischen Teilnehmer zu schützen. Die Reaktion der Gaia-X-Unterstützer darauf: „Manche sehen ihre Felle davon schwimmen, weil es nicht schnell genug geht. Zu erwarten, dass Gaia das Geschäft rettet, war jedoch unrealistisch“, wird Marc Korthaus, Geschäftsführer der Cloud-Firma SysEleven, von der „Wirtschaftswoche“ zititert. Ein weiteres Problem ist die Unbekanntheit von Gaia-X. Laut einer ZDIN-Umfrage greifen zwar etwa 90 Prozent der Betriebe auf Cloud-Dienste zurück, der Großteil der kleinen und mittelständischen Unternehmen hat allerdings noch nie von Gaia-X gehört. Selbst unter den assoziierten Partnern ist nur jeder dritte Betrieb so richtig gut im Thema drin.

Statistik Cyberangriffe

Die Forderung lautet deshalb: Niedersachsen sollte ein Zentrum bekommen, das den Mittelstand an Gaia-X heranführt – idealerweise das ZDIN. Außerdem werben die Digitalisierungsforscher für mehr Fördermittel des Landes, insbesondere für Leuchtturmprojekte. „Mit solchen beispielgebenden Projekten werden Erfolgsgeschichten geschaffen, die Potenziale von Gaia-X aufzeigen und auf weitere Unternehmen motivierend wirken“, heißt es im Positionspapier. Eine weitere Forderung: Niedersachsen sollte die Bundesstrukturen adaptieren und sogenannte Gaia-X-Knoten einrichten, die letztlich die Infrastruktur für das Netzwerk bilden.

Außerdem soll Gaia-X zum Standard bei den Städten und Gemeinden in Niedersachsen werden. „Die Daten werden durch Kommunen aktuell noch weitestgehend unkoordiniert bereitgestellt“, bemängelt das ZDIN und schlägt vor: „Um dies vereinheitlichen zu können, ist es ratsam, die Rechenzentren auf standardisierte Cloud-Lösungen und die Software auf Service umzustellen.“ Als Basis für die dabei entstehende Cloud-Infrastruktur solle dabei Gaia-X herangezogen werden. „Das Land Niedersachsen benötigt eine Strategie, wie es in den nächsten Jahren mit dem Thema Gaia-X umgehen will“, sagt der ZDIN-Direktoriumsvorsitzende Prof. Wolfgang Nebel und hofft nun, dass möglichst viele der Handlungsempfehlungen aus dem Positionspapier von der Politik berücksichtigt werden.

Dieser Artikel erschien am 29.4.2022 in Ausgabe #080.
Christian Wilhelm Link
AutorChristian Wilhelm Link

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