Es ist voll am Bahnsteig in Poznan, das früher Posen hieß. Züge fahren rein, Menschen steigen aus. Darunter eine kleine Delegation um Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay, die sich mit ihren Koffern einen Weg durch das Gedränge bahnt. Ihr Ziel: eine große Halle, fußläufig zum Bahnhofsgelände. „Es ist der gleiche Weg, den normalerweise die ukrainischen Geflüchteten durchlaufen, wenn sie in Poznan ankommen“, sagt Stadtratsvorsitzender Grzegorz Ganowicz. „In den Anfängen haben wir hier tausende Menschen pro Tag rund um die Uhr durchgebracht.“ 40.000 Ukrainer sind allein in Poznan geblieben, lautet eine Schätzung der Stadt. 

Stadtpräsident Jacek Jaśkowiak im Gespräch mit Oberbürgermeister Belit Onay. | Fotos: Struck

Mittlerweile hat sich der Flüchtlingsstrom gelegt, nur vereinzelt kommen noch Ukrainer in der Stadt im Westen Polens an. Für eine bessere Organisation und Beratung wurde eine von außen eher unscheinbare Halle zum Servicepoint umfunktioniert. Knapp 20 Menschen stehen draußen an und warten darauf, dass sie sich im Eingangsbereich anmelden dürfen. „Zu Anfang war das hier eine große Anlaufstelle mit Übernachtungsmöglichkeiten. Mittlerweile haben wir vieles zurückgebaut, die Flüchtlinge wurden in kleinere umliegende Ortschaften verteilt“, sagt Ganowicz.

Foto: Audrey-Lynn Struck

Die Halle wurde in zwei Bereiche geteilt, voneinander getrennt durch eine weiße Wand. Im ersten Bereich geht es um Bürokratie. Dementsprechend nüchterner ist der Raum eingerichtet, die Atmosphäre erinnert an ein Wartezimmer. Stuhlreihe um Stuhlreihe sind in der Mitte nebeneinander in beide Richtungen aufgebaut, vereinzelt sitzen dort Geflüchtete und warten darauf, dass sie aufgerufen werden. „Danach können sie eine Art Umfrage durchführen, um herauszufinden, was sie brauchen“, erklärt Ewa Galka, Vorstandsvorsitzende vom Verband des Zentrums für die Förderung und Entwicklung von Bürgerinitiativen. „Dort bekommt man ein kostenloses Busticket, eine SIM-Karte für Telefonanrufe und da vorne wird man juristisch beraten“, sagt Galka und zeigt dabei auf eine Reihe an Ständen, die an den Wänden verteilt stehen. Auch um die Haustiere wird sich gekümmert. Die Beratungsangebote werden von Freiwilligen von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) betrieben, gemanagt wird die Halle von der Caritas, die auch sonst in einen Großteil der Hilfsangebote für ukrainische Geflüchtete involviert sind. „Als noch keiner wusste, wie wir das alles organisieren sollen, haben sich die NGOs zusammengetan und Themenbereiche aufgeteilt, die sie abdecken“, erläutert Iwona Matuszczak-Szulc, Leiterin der Stadtentwicklung und internationalen Zusammenarbeit. „Manche Ehrenamtliche helfen nachts und arbeiten am Tag. So habe ich selbst das auch gemacht.“

Eine Trennwand schirmt den ersten organisatorischen Bereich vom zweiten, wohnlicheren Teil der Halle ab. An einer langen Theke wird Essen ausgegeben, Stühle und Tische wurden in kleinen Grüppchen drumherum aufgestellt. Auf der gegenüberliegenden Seite türmen sich auf mehreren Tischen die Kleidungsberge – ein Großteil davon ist Kinderkleidung. Auch an eine Spieleecke für Kinder wurde gedacht. „Man muss sich in die Menschen hineinversetzen, was sie brauchen, um sich an einem solchen Ort wohlzufühlen“, weiß der Stadtratsvorsitzende Ganowicz. „Wir hatten am Anfang vieles nur mit einem Anruf organisiert. Das war unglaublich.“

Foto: Audrey-Lynn Struck

Alles musste neu organisiert werden, von Feldbetten, über Bettzeug bis hin zu Spielsachen. Nach Kriegsbeginn hat Poznan alle Partnerstädte angeschrieben und um Hilfe bei der Unterbringung der ukrainischen Geflüchteten gebeten. In dieser Größenordnung habe aber nur die Stadt Hannover geholfen. „Tatsächlich hat Hannover mit uns Kontakt aufgenommen, noch ehe wir die E-Mail überhaupt verschicken konnten“, erinnert sich Ganowicz.

Auch an diesem Tag trifft eine weitere Ladung mit Hilfsgütern aus der Stadt Hannover in Poznan ein. Nach einer knapp achtstündigen Fahrt erreichte der Laster der Feuerwehr Hannover sein Ziel. „Wir brauchen nicht auf Regierungsentscheidungen zu warten, um erst dann zu handeln. Ich kann auch dem Oberbürgermeister Onay eine Liste schicken mit Hilfsgütern, die ich brauche, und dann hilft er mir beim Organisieren“, schwärmt Poznans Stadtpräsident Jacek Jaśkowiak über seinen Amtskollegen. 

Jaśkowiak ist ein Mann, der zupacken kann. Das zeigt auch sein ungewöhnliches Hobby, von dem der 56-Jährige beim späteren Abendessen erzählt: Seit über 45 Jahren ist er leidenschaftlicher Boxer. Bei Charity-Events kämpfte er bereits gegen zahlreiche Prominente. Steigt Onay bald auch mit Jaśkowiak in den Ring? Hannovers Oberbürgermeister schüttelt lachend den Kopf. Stattdessen reden die beiden Männer über mögliche weitere Hilfen für die Ukraine. „Wir wollen auch gerne ukrainische Städte direkt unterstützen, wie zum Beispiel Poznans Partnerstadt Charkiw“, macht Onay deutlich. Gerade die technische Unterstützung spiele eine große Rolle. Wie sichert man die Wasserversorgung? Wie gewährleistet man die medizinische Versorgung? „Die Achse von Poznan nach Charkiw scheint gut zu funktionieren. Die Möglichkeit, dass wir uns da einklinken, ist deshalb sehr naheliegend“, sagt Onay. Über Details muss nun beraten werden.

Eine große Unterstützung, sowohl bei der Unterbringung als auch bei der Betreuung der Ukrainer, kommt auch von den polnischen Universitäten. „An einem Tag hatten wir eine Liste mit 80 freiwilligen Studenten, die dolmetschen wollten“, sagt Matuszczak-Szulc. Die Wirtschaftsuniversität Poznan hat ihre Sporthalle bis Ende Mai als Unterkunft zur Verfügung gestellt. Die Hälfte der Geflüchteten lebt seit Kriegsbeginn hier, die andere kam erst vor kurzem hierher.

In der kleinen Halle drängen sich 120 Betten mit zusammengestückelten Bettwäschen dicht an dicht, viel Privatsphäre ist nicht möglich. Ein Großteil der Feldbetten wurde von der Stadt Hannover gespendet. „Die Stadt koordiniert die Rahmenbedingungen, den Rest übernehmen freiwillige Mitarbeiter“, sagt der Rektor Prof. Maciej Zukowski. Unter den ehrenamtlichen Helfern sind auch viele Studierende, die zum Teil im Studentenwohnheim direkt gegenüber von der Sporthalle wohnen.

Jeder Raum in der Sporthalle wurde übergangsweise umfunktioniert, so wurde im ersten Stock eine Essensausgabe eingerichtet. „Wir haben eine Cateringfirma, die sich um die Verpflegung kümmert“, erklärt Ewa Paluch, die Büroleiterin vom Rektor. Der Gymnastikraum ist bis auf ein paar grüne Bälle an der Wand kaum noch als solcher zu erkennen. Stattdessen wurden Spielteppiche ausgerollt, kleine Sitzgelegenheiten aufgebaut und Spiele liegen auf dem Boden verstreut. Ohne Spenden wäre ein volleingerichtetes Spielezimmer dieser Art nicht möglich gewesen. „Vieles passiert nicht deshalb, weil die Behörden oder die Politiker das so anordnen, sondern weil Privatpersonen dahinterstecken“, berichtet Ganowicz. Allein in Poznan gibt es sieben Übernachtungsmöglichkeiten für Ukrainer, vier davon werden von der Stadt geführt. In der gesamten Region sind es knapp 70. „Die meisten Ukrainer sind aber privat untergebracht“, sagt Vorstandsvorsitzende Galka.

In einem Unterstützungspunkt der Stadtverwaltung sind städtische Gebäude, frühere Büros von NGOs: Hier werden Spenden entgegengenommen und weiter verteilt, zusätzlich finden in den ehemaligen Bürogebäuden Beratungsangebote und Aktivitäten für ukrainische Flüchtlinge statt. Jeden Sonnabend wird eine psychologische Beratung angeboten, in einem weiteren Raum lernen ukrainische Flüchtlingskinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren Polnisch. Bald soll ein weiterer Sprachkurs für Rentner angeboten werden. Die Hilfsbereitschaft ist groß. „Am Anfang war die Hilfsbereitschaft größer, als die Organisationsgröße.“ In einer Datenbank wurden alleine für diesen Standort knapp 4000 ehrenamtliche Helfer erfasst. Und das trotz Vorurteilen gegen die Ukrainer, wie Ganowicz betont. „Wir hatten in unserer gemeinsamen Geschichte auch schwierige Momente. Aber jetzt helfen wir.“