Eine aktuelle Mitteilung der Staatsanwaltschaft Göttingen vom vergangenen Freitag hat in der Landesregierung eine hektische Betriebsamkeit ausgelöst. Die Justizbehörde ging deutlich auf Distanz zu einer Mitteilung führender Vertreter des Innenministeriums in den Landtagsausschüssen für Inneres und Soziales vor knapp zwei Monaten. Während leitende Mitarbeiter von Innenminister Boris Pistorius (SPD) dort erklärt hatten, schwere Versäumnisse der Northeimer Polizei seien verantwortlich gewesen dafür, dass ein des Kindesmissbrauch beschuldigter 48-jähriger Northeimer seine Taten ungehindert hatte fortsetzen können, widerspricht die Staatsanwaltschaft. Sie sieht das Verhalten der Polizeibeamten „frei von Fehlern, die strafrechtlich bedeutsam sein könnten“.
In Landtagskreisen grassiert nun der Verdacht, das Innenministerium habe die Vorfälle in den Landtagsgremien vorsätzlich zugespitzt und sinnentstellend präsentiert, damit ein Vorwand für die spätere Versetzung des Göttinger Polizeipräsidenten Uwe Lührig in den einstweiligen Ruhestand geschaffen wurde.
Die Vermutung, leitende Mitarbeiter von Pistorius könnten das Parlament falsch unterrichtet und damit Lührig wider besseres Wissen in ein ungünstiges Licht gerückt haben, führte schon zu ersten Konsequenzen. SPD und CDU haben sich inzwischen verständigt, in der Sache Akteneinsicht im Innenausschuss zu beantragen. Das kommt auch dem Ansinnen von Marco Genthe (FDP) entgegen, der fragt, ob womöglich eine Mitverantwortung im Kindesmissbrauchsfall nur konstruiert wurde, um den Polizeipräsidenten von seinem Posten zu entfernen. Zwischen Pistorius und Lührig soll das Verhältnis ohnehin alles andere als vertrauensvoll gewesen sein.
Nach Informationen des Politikjournals Rundblick ist der gesamte Fall von Merkwürdigkeiten durchzogen. Es geht um die Frage, ob ein 48-Jähriger Northeimer, der im Zusammenhang mit dem Kindesmissbrauch-Skandal in Lügde (Nordrhein-Westfalen) aufgefallen war, schon frühzeitig hätte festgesetzt werden können. Nach heutigen Erkenntnissen werden ihm Missbrauchstaten für einen Zeitraum von mehreren Monaten vorgehalten, in dem er schon den Behörden bekannt, aber noch nicht festgenommen worden war.
Nach der Verhaftung des Mannes im März 2020 hatte zunächst eine polizeiinterne Arbeitsgruppe die Sache untersucht und keine Versäumnisse der Northeimer Polizei festgestellt. Dann zog das Innenministerium die Aufklärung an sich, dabei soll man sich des Leiters der Strafrechtsabteilung im Justizressort, Thomas Hackner, bedient haben – wie es heißt ohne Wissen seiner Ministerin Barbara Havliza. In einem von Hackner im Oktober 2020 verfassten Vermerk soll das erstmals niedergeschrieben worden sein, was Landespolizeipräsident Axel Brockmann am 4. Februar 2021 vor dem Innenausschuss hervorhob: „Bereits rund ein Jahr vor der Festnahme des 48-Jährigen lagen Informationen des Jugendamtes Northeim bei der Polizeiinspektion Northeim vor, die Hinweise auf Missbrauchshandlungen im familiären Umfeld von zwei Familien im Kreis Northeim lieferten.“
Trotz „deutlicher Hinweise des Jugendamtes“ seien „eigene Handlungsnotwendigkeiten durch die Polizei Northeim nicht ausreichend geprüft“ worden. Dieser Beschreibung von Anfang Februar widerspricht nun deutlich der Sprecher der Staatsanwaltschaft Göttingen: „Nie im Leben“ hätten die der Polizei Northeim damals vorliegenden Hinweise seiner Meinung nach ausgereicht, ein Ermittlungsverfahren gegen den 48-Jährigen zu starten. Die Hinweise hätten auch „nichts Konkretes mit Bezug auf einen Täter oder eine bestimmte Tat“ enthalten, sagte Buick. Daher sei den Polizeibeamten kein strafrechtlich bedeutsames Verhalten vorzuwerfen.
Die Frage ist nun, wie Brockmann zu seiner scharfen Formulierung im Innenausschuss kam – angesichts der Tatsache, dass für Verfehlungen der Northeimer Beamten der Göttinger Polizeipräsident als politischer Beamter geradestehen musste. Die Deutsche Polizei-Gewerkschaft forderte den Rücktritt von Pistorius, da Polizeibeamten hier wohl „grundlos schwerwiegende Verfehlungen und strukturelles Versagen“ vorgeworfen worden sei. Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Dietmar Schilff, beklagte sich über „pauschale Vorwürfe von verschiedenen Seiten“ in diesem Fall, ohne den Namen Pistorius in diesem Zusammenhang zu erwähnen.